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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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»wenn man sagte, daß sie die einzigen waren, die im Mittelalter nicht verfolgt wurden. Wenn man die Zeit des Mittelalters satirisch zeichnen wollte, könnte man das gut tun, indem man sagte, daß mancher arme Christ lebenden Leibes verbrannt werden konnte, weil er in Sachen Homousios einen Fehler machte, während ein reicher Jude die Straße hinabgehen und öffentlich Christus und die Mutter Gottes verhöhnen mochte. So also sieht die Geschichte aus. Es war niemals eine Geschichte aus dem Mittelalter; es war niemals auch nur eine Legende übers Mittelalter. Sie wurde von jemandem erfunden, dessen Vorstellungen aus Zeitungen und Romanen stammen, und höchstwahrscheinlich aus dem Stegreif.«
    Die anderen schienen von der geschichtlichen Abschweifung etwas benommen zu sein und sich zu wundern, warum der Priester sie so betonte und zu einem so wichtigen Teil des Rätsels machte. Aber Tarrant, dessen Geschäft es war, die handfesten Einzelheiten aus vielen verworrenen Abschweifungen herauszuklauben, war plötzlich aufmerksam geworden. Sein bärtiges Kinn war weiter denn je vorgestreckt, seine düsteren Augen aber waren hellwach.
    »Aha«, sagte er, »aus dem Stegreif erfunden!«
    »Das ist vielleicht eine Übertreibung«, räumte Father Brown ruhig ein. »Ich hätte besser sagen sollen: zufälliger und sorgloser erfunden als der Rest des ungewöhnlich sorgfältigen Planes. Aber der Planer dachte nicht daran, daß Einzelheiten einer mittelalterlichen Geschichte irgendwem etwas bedeuten könnten. Und diese seine Berechnung war ja im allgemeinen auch ziemlich richtig wie die meisten seiner anderen Berechnungen.«
    »Wessen Berechnungen? Wer hatte recht?« fragte die Dame mit einem plötzlichen Anflug von leidenschaftlicher Ungeduld. »Von wem reden Sie eigentlich? Haben wir noch nicht genug durchgemacht, ohne daß Sie uns mit Ihren ›ers‹ und ›seins‹ zum Gruseln bringen?«
    »Ich spreche vom Mörder«, sagte Father Brown.
    »Welcher Mörder?« fragte sie scharf. »Wollen Sie behaupten, daß der arme Professor ermordet wurde?«
    »Nun«, knurrte Tarrant starräugig in seinen Bart, »wir können nicht sagen ›ermordet‹, denn wir wissen nicht, wie er zu Tode kam.«
    »Der Mörder tötete jemand anderen, der nicht Professor Smaill war«, sagte der Priester ernst.
    »Wieso, wen hat er denn getötet?« fragte der andere.
    »Er tötete Hochwürden John Walters, den Vikar von Dulham«, erwiderte Father Brown mit Präzision. »Er wollte nur diese beiden töten, denn beide waren sie in den Besitz von Reliquien einer seltenen Art gekommen. In dieser Frage war der Mörder monoman.«
    »Das klingt alles sehr sonderbar«, murmelte Tarrant. »Natürlich können wir auch nicht beschwören, daß der Vikar wirklich tot ist. Wir haben seine Leiche nicht gesehen.«
    »O doch, haben Sie«, sagte Father Brown.
    Eine Stille entstand so plötzlich wie der Schlag eines Gongs; eine Stille, in der das unbewußte Rätselraten, das in der Frau so aktiv und akkurat war, sie fast zu einem Aufschrei brachte.
    »Genau das haben Sie gesehen«, fuhr der Priester fort. »Sie haben seine Leiche gesehen. Sie haben nicht ihn gesehen – den wirklichen lebendigen Mann; aber Sie haben tatsächlich seine Leiche gesehen. Sie haben sie im Lichte von vier großen Kerzen aufmerksam angestarrt; und sie trieb nicht als Folge eines Selbstmordes in der See umher, sondern sie war prunkvoll aufgebahrt wie die eines Kirchenfürsten, in einem vor den Kreuzzügen erbauten Schrein.«
    »Mit anderen Worten«, sagte Tarrant, »wollen Sie uns glauben machen, daß der einbalsamierte Körper tatsächlich die Leiche eines ermordeten Mannes war.«
    Father Brown schwieg einen Augenblick; dann sagte er mit einem Ausdruck, als sei es nebensächlich:
    »Was mir als erstes auffiel, war das Kreuz, oder vielmehr die Schnur, an der das Kreuz hing. Natürlich war es für die meisten von Ihnen nur eine Perlenschnur und nichts weiter; aber ebenso natürlich lag das mehr auf meiner als auf Ihrer Linie. Sie werden sich erinnern, daß es dem Kinn sehr nahe lag und daß nur wenige Perlen sichtbar waren, als ob das ganze Halsband sehr kurz sei. Aber die Perlen, die sichtbar waren, waren auf eine besondere Weise angeordnet, erst eine und dann drei, und so weiter; tatsächlich erkannte ich auf den ersten Blick, daß es ein Rosenkranz war, ein einfacher Rosenkranz mit einem Kreuz am Ende. Nun weist aber ein Rosenkranz mindestens fünf Zehnergruppen und außerdem zusätzliche Perlen auf;

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