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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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er oft wilde Zuschriften der Zustimmung, der Verurteilung, selbst der Liebe erhalten; eine davon war auf irgendeine Weise in seiner Erinnerung haftengeblieben. Sie bestand einfach aus einer Visitenkarte in einem Umschlag mit englischer Briefmarke. Auf der Rückseite der Karte stand in Französisch und grüner Tinte geschrieben: »Falls Sie sich je zur Ruhe setzen und ehrbar werden, kommen Sie und besuchen Sie mich. Ich möchte Sie kennenlernen, denn ich habe alle anderen großen Männer meiner Zeit kennengelernt. Jener Trick von Ihnen, den einen Detektiv dazu zu bewegen, den anderen zu verhaften, war die herrlichste Szene der französischen Geschichte.« Auf der Vorderseite der Karte war in der formellen Art eingeprägt: »Prinz Saradine, Schilfhaus, Schilfinsel, Norfolk«.
    Damals hatte er sich nicht viel um den Prinzen gekümmert, sondern nur festgestellt, daß er in Süditalien ein glänzender Weltmann gewesen war. In seiner Jugend, hieß es, war er mit einer verheirateten Frau hohen Standes durchgegangen; die Eskapade hatte in seinen Gesellschaftskreisen kaum Aufsehen erregt, aber sie war in der Erinnerung der Leute durch eine mit ihr verbundene Tragödie verblieben: den angeblichen Selbstmord des beleidigten Ehemannes, der sich offenbar in Sizilien eine steile Klippe hinuntergestürzt hatte. Danach lebte der Prinz einige Zeit lang in Wien, aber seine letzten Jahre schienen in ständigem und rastlosem Reisen vergangen zu sein. Nachdem Flambeau nun, wie der Prinz auch, den Ruhm Europas verlassen und sich in England niedergelassen hatte, war es ihm in den Sinn gekommen, daß er diesem hervorragenden Exilanten in den Broads von Norfolk einen Überraschungsbesuch abstatten könnte. Er hatte keine Ahnung, ob er den Ort finden würde; und wahrlich war er dazu klein und vergessen genug. Aber wie sich herausstellen sollte, fand er ihn viel früher als erwartet.
    Eines Abends hatten sie ihr Boot unter einem Ufer festgemacht, das sich in langem Gras und kurzgekappten Bäumen verbarg. Schlaf war nach schwerem Rudern früh zu ihnen gekommen, und einem entsprechenden Zufall zufolge erwachten sie, bevor es hell war. Um genauer zu sein, sie erwachten vor Tagesanbruch; denn ein großer zitronengelber Mond versank gerade erst in dem Wald aus hohem Gras zu ihren Häuptern, und der Himmel war von einem lebendigen Blauviolett, nächtlich, aber hell. Beiden Männern kamen gleichzeitig Erinnerungen an ihre Kindheit, an die Zeit der Elfen und Abenteuer, als sich hohe Gräser über ihnen wie Wälder schlossen. So gegen den großen niedrigen Mond sahen die Gänseblümchen aus wie riesige Gänseblümchen, die Löwenzähne wie riesige Löwenzähne. Irgendwie erinnerte sie das an die Bilderstreifen auf den Kinderzimmertapeten. Die Ebbe im Flußbett reichte aus, sie unter die Wurzeln aller Büsche und Blumen sinken und zu den Gräsern aufschauen zu lassen.
    »Bei Gott!« sagte Flambeau; »das ist wie im Märchenland.«
    Father Brown setzte sich im Boot kerzengerade auf und bekreuzigte sich. Seine Bewegung war so jäh, daß sein Freund ihn mit einem milden Erstaunen fragte, was denn los sei.
    »Die Leute, die die mittelalterlichen Balladen schrieben«, antwortete der Priester, »wußten mehr über Märchenwesen als Sie. Im Märchenland ereignen sich nicht nur nette Dinge.«
    »Ach Unfug!« sagte Flambeau. »Unter so einem unschuldigen Mond können sich nur nette Dinge ereignen. Ich bin dafür, daß wir weiterfahren und nachsehen, was da wirklich ist. Wir könnten sterben und vermodern, ehe wir noch einmal einen solchen Mond oder eine solche Stimmung erleben.«
    »In Ordnung«, sagte Father Brown. »Ich habe nie gesagt, daß es immer falsch ist, ins Märchenland zu gehen. Ich habe nur gesagt, daß es immer gefährlich ist.«
    Langsam ruderten sie den erwachenden Fluß hinan; das glühende Violett des Himmels und das blasse Gold des Mondes wurden schwächer und schwächer und verblaßten in jenen weiten farblosen Kosmos, der den Farben der Morgendämmerung vorangeht. Als die ersten schwachen Streifen aus Rot und Gold und Grau den Horizont von einem Ende zum anderen spalteten, brachen sie sich an der schwarzen Masse einer Stadt oder eines Dorfes, die gerade vor ihnen über dem Fluß hockte. Es herrschte bereits ein leichtes Zwielicht, in dem alle Dinge sichtbar waren, als sie unter den überhängenden Dächern und den Brücken dieser Flußufersiedlung ankamen. Die Häuser mit ihren langen, niedrigen, krummen Dächern schienen wie große graue

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