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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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Auges, umgeben von goldenen Strahlen und so viel Platz einnehmend wie zwei oder drei Bürofenster.
    »Was in aller Welt ist denn das?« fragte Father Brown und blieb stehen.
    »Ach, das ist eine neue Religion«, sagte Flambeau lachend; »eine von jenen neuen Religionen, die einem die Sünde vergeben, indem sie erklären, daß man überhaupt nicht gesündigt hat. So was Ähnliches wie Christian Science, möchte ich meinen. Tatsache ist, daß ein Kerl, der sich Kalon nennt (ich weiß nicht, wie sein Name ist, nur daß es der nicht sein kann), das Büro über mir gemietet hat. Unter mir habe ich zwei Maschinenschreiberinnen, und diesen schwärmerischen alten Schwindler über mir. Er nennt sich der Neue Priester Apolls, und er verehrt die Sonne.«
    »Dann soll er sich in acht nehmen«, sagte Father Brown. »Die Sonne war die grausamste aller Gottheiten. Aber was soll denn das entsetzliche Auge bedeuten?«
    »Soviel ich verstanden habe«, antwortete Flambeau, »lautet ihre Theorie, daß ein Mensch alles ertragen kann, wenn nur sein Geist beständig ist. Ihre beiden großen Symbole sind die Sonne und das offene Auge; denn sie sagen, wenn ein Mensch wirklich gesund ist, kann er in die Sonne starren.«
    »Wenn ein Mensch wirklich gesund ist«, sagte Father Brown, »wird er sich nicht die Mühe machen, sie anzustarren.«
    »Na ja, das ist alles, was ich Ihnen über diese neue Religion berichten kann«, fuhr Flambeau leichthin fort. »Sie erhebt natürlich den Anspruch, daß sie alle körperlichen Leiden heilen kann.«
    »Kann sie denn auch das eine geistige Leiden heilen?« fragte Father Brown mit ernsthafter Neugier.
    »Und was ist das eine geistige Leiden?« fragte Flambeau lächelnd.
    »Oh, sich einzubilden, daß man völlig gesund sei«, sagte sein Freund.
    Flambeau war mehr an dem kleinen ruhigen Büro unter ihm interessiert, als an dem prachtvollen Tempel über sich. Er war ein klar denkender Südländer und daher unfähig, sich selbst als etwas anderes denn als einen Katholiken oder einen Atheisten zu sehen; und neue Religionen von leuchtender Farblosigkeit waren nicht nach seinem Geschmack. Aber Menschliches war immer nach seinem Geschmack, vor allem, wenn es gut aussah; darüber hinaus waren die Damen unter ihm auf ihre Art Persönlichkeiten. Das Büro gehörte zwei Schwestern, beide schlank und dunkel, eine von ihnen groß und auffallend. Sie hatte ein dunkles, gespanntes Adlerprofil und war eine jener Frauen, die man sich immer im Profil vorstellt, wie die klar geschnittene Schneide einer Waffe. Sie schien sich ihren Weg durchs Leben zu schneiden. Sie hatte Augen von auffälligem Glanz, aber es war eher der Glanz des Stahls als der des Diamanten; und ihre gerade, schlanke Figur war einen Hauch zu steif für ihre Anmut. Ihre jüngere Schwester war wie ihr verkürzter Schatten, ein bißchen grauer, farbloser, unbedeutender. Beide trugen geschäftsmäßiges Schwarz, mit kleinen männlichen Manschetten und Kragen. In den Londoner Büros gibt es Tausende solcher kurz angebundener fleißiger Damen, doch der Reiz dieser beiden bestand eher in ihrer wirklichen als in ihrer scheinbaren Stellung.
    Denn Pauline Stacey, die ältere, war tatsächlich die Erbin eines Helmwappens und einer halben Grafschaft sowie eines großen Vermögens; sie war in Schlössern und Gärten aufgewachsen, ehe ihr frostiger Stolz (der modernen Frau eigentümlich) sie in ein nach ihrer Ansicht strengeres und höheres Leben trieb. Sie hatte zwar auf ihr Geld keineswegs verzichtet; das wäre ein romantischer oder mönchischer Verzicht gewesen, der ihrem herrschsüchtigen Utilitarismus keineswegs entsprach. Sie halte ihren Reichtum beisammen, pflegte sie zu sagen, um ihn für praktische soziale Zwecke zu verwenden. Einen Teil davon hatte sie in ihr Geschäft gesteckt, den Kern eines mustergültigen Schreibbüroreiches, einen anderen Teil hatte sie unter alle möglichen Gesellschaften und Bewegungen für die Förderung solcher Arbeit unter Frauen verteilt. Wie weit Joan, ihre Schwester und Partnerin, diesen ziemlich prosaischen Idealismus teilte, war nicht sicher auszumachen. Aber sie folgte ihrer Führerin mit geradezu hündischer Zuneigung, die mit ihrem Hauch von Tragödie viel anziehender war als der harte hochmütige Geist der älteren. Denn Pauline Stacey hatte zum Thema Tragödie nichts zu sagen; vielmehr leugnete sie deren Existenz überhaupt.
    Ihre starre Geschwindigkeit und ihre kalte Ungeduld hatten Flambeau anläßlich seines ersten Besuchs

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