Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
sehr viel besser aus, mit goldenem Bart, leuchtend blauen Augen, einer wehenden Löwenmähne. Seinem Bau nach war er die blonde Bestie Nietzsches, aber diese animalische Schönheit wurde erhöht, aufgehellt und gesänftet durch echten Verstand und wahre Geistigkeit. Wenn er schon einem der großen Sachsenkönige glich, dann einem jener Könige, die auch Heilige waren. Und das trotz all der Ungereimtheiten seiner alltäglichen Umgebung; trotz der Tatsache, daß er ein Büro auf halber Höhe eines Gebäudes in der Victoria Street hatte; daß sein Sekretär (ein gewöhnlicher Jüngling mit Manschetten und Kragen) im Vorzimmer zwischen ihm und dem Korridor saß; daß sich sein Name auf einem Messingschild befand und das vergoldete Emblem seines Glaubens über der Straße hing wie das Firmenschild eines Augenarztes. All diese Gewöhnlichkeiten konnten dem Mann namens Kalon die Lebendigkeit des Eindrucks und des Einflusses nicht nehmen, die ihm aus Seele und Körper kamen. In der Gegenwart dieses Marktschreiers fühlte man sich trotz allem in der Gegenwart eines großen Mannes. Selbst in seinem losen leinenen Anzug, den er als Arbeitsanzug in seinem Büro trug, war er eine faszinierende und beeindruckende Erscheinung; und wenn er in die weißen Gewänder gekleidet und mit dem goldenen Reifen gekrönt war, in denen er täglich die Sonne grüßte, dann sah er wirklich so herrlich aus, daß dem Straßenvolk das Gelächter manchmal auf den Lippen erstarb. Denn dreimal am Tage trat der neue Anbeter der Sonne hinaus auf seinen kleinen Balkon, um vor ganz Westminster seinem strahlenden Herrn eine Litanei aufzusagen: einmal zum Tagesanbruch, einmal bei Sonnenuntergang, und einmal Punkt zwölf Uhr mittags. Und während noch der Klang des Mittagsläutens schwach von den Türmen des Parlaments und der Pfarrkirche herüberdrang, geschah es, daß Father Brown, der Freund Flambeaus, erstmals hochschaute und den weißen Priester Apolls erblickte.
Flambeau hatte diese täglichen Begrüßungen von Phoebus oft genug gesehen und verschwand durch das Portal des hohen Gebäudes, ohne sich auch nur nach seinem klerikalen Freund umzudrehen, ob der ihm folge. Father Brown aber, ob nun aus beruflichem Interesse an Ritualen oder aus einem starken persönlichen Interesse an Betrügereien, blieb stehen und starrte hinauf zu dem Balkon des Sonnenanbeters, gerade so, wie er es bei einem Kasperletheater getan hätte. Kalon der Prophet stand bereits aufgerichtet da, in silbernen Gewändern und mit erhobenen Händen, und der Klang seiner seltsam durchdringenden Stimme konnte den ganzen Weg hinab in die geschäftige Straße gehört werden, wie er seine Sonnenlitanei betete. Er hatte bereits ihre Mitte erreicht; seine Augen waren auf die flammende Scheibe gerichtet. Es ist zu bezweifeln, daß er irgend etwas oder irgend jemand auf Erden sah; es ist absolut sicher, daß er einen kümmerlichen rundgesichtigen Priester nicht sah, der unten in der Menge mit blinzelnden Augen zu ihm aufblickte. Und das war vielleicht der auffälligste Unterschied zwischen diesen beiden so ungleichen Männern. Father Brown konnte nichts ansehen, ohne zu blinzeln; aber der Priester Apolls konnte in die flammende Mittagsglut blicken, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken.
»O Sonne«, rief der Prophet, »o Stern, der du zu groß bist, um bei den anderen Sternen zu weilen! O Quell, der du ruhig an jenem geheimnisvollen Orte fließest, der das All heißt. Weißer Vater aller weißen unveränderlichen Dinge, der weißen Flammen und der weißen Blüten und der weißen Gipfel. Vater, der du unschuldiger bist als das unschuldigste und ruhigste deiner Kinder; Urreinheit, in deren Frieden – «
Ein Stürzen und Krachen wie der Umkehrsturz einer Rakete wurde von einem schrillen langgezogenen Schrei durchschnitten. Fünf Menschen stürmten durch das Portal des Hochhauses hinein, während drei Menschen herausstürmten, und für einen Augenblick überschrien alle einander. Ein Gefühl des äußersten fürchterlichsten Schreckens schien für einen Moment die halbe Straße mit üblen Nachrichten zu erfüllen – üble Nachrichten, die um so schlimmer waren, als niemand wußte, um was es ging. Zwei Gestalten blieben nach diesem Zusammenprall von Bewegungen ruhig stehen: der schöne Priester Apolls oben auf dem Balkon, und der häßliche Priester Christi unter ihm.
Schließlich erschienen die Riesengestalt und die titanische Energie Flambeaus im Portal des Gebäudes und beherrschten den
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