Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
aufschlussreichen Klemme. Einerseits gieren wir emotional nach Sensationen, andererseits versucht uns die Vernunft auf gebührende Distanz davon zu halten. Bekanntlich mit eher geringem Erfolg, wenn wir uns selbstkritisch betrachten. Die Übertreibungen bedienen ein inneres Bedürfnis. Mit dem Geschichtenerzählen, mit den Märchen, fing es schon in der Kindheit an. Die Zusammensetzung der Medienprogramme haben wir unserer Sucht nach dem Unwirklichen zuzuschreiben. Vor allem Film und Fernsehen bedienen mit ihren bewegten Bildern die Sensationslust. Keine Übertreibung ist zu groß, wenn sie sich nur irgendwie darstellen lässt.
Starten wir nach diesen Zwischenbemerkungen die Suche nach dem Urbild der Drachen aufs Neue. Die »Großen«, wie die Krokodile und Warane, sind bereits aus den geschilderten Gründen ausgeschieden. Die Schlangen auch, denn auf sie beziehen sich eigene mythische Schlangen, wie die Midgardschlange der Germanen, die Hydra oder die sich selbst verschlingende Uroboros-Schlange. Als beinlose, auf dem Bauche kriechende Reptilien sind die Schlangen in all ihren Formen stets von den sich auf Beinen fortbewegenden, mitunter auch häutige Flügel tragenden Drachen klar unterschieden. Den Drachenmythos gab es längst, bevor die versteinerten Knochen von Dinosauriern gefunden wurden, die sich der Figur des Drachen leicht zuordnen ließen. Somit verbleiben für die Suche nach den Vorbildern nur noch die realen Mini-Drachen. In Form von Eidechsen kommen sie nach wie vor in Europa weit verbreitet vor. Noch viel arten- und formenreicher ist die Welt der kleinen Reptilien rund ums Mittelmeer und in den subtropisch-tropischen Zonen Afrikas und Asiens mit Agamen, Geckos, Skinken und Chamäleons. Viele von ihnen sind sehr schnell, können, wie manche Agamen, die Farbe bedrohlich wechseln oder tragen Halskrausen und bizarre Auswüchse an Kopf, Hals und Rücken. Als »kleine Drachen« wirken sie jedoch eher niedlich. Unter ihnen gibt es zudem keine gefährlichen Vertreter mit giftigem Biss, auch wenn manche Agamen beim Versuch, sie zu fangen, durchaus heftig zubeißen. Sie eignen sich zur verniedlichenden Übertragung von Eigenschaften der großen Drachen ähnlich wie die barocken Putten als kindliche Abbilder der Engel. Dass die kleinen Echsen die Ursprünge des Drachenmythos repräsentieren, ist kaum vorstellbar. Wer möchte etwa annehmen, dass sich ohne das wirkliche Vorbild des Adlers aus dem nur taubengroßen Sperber oder gar einem kleinen Singvogel der Aar als Wappenvogel oder der mythische Greif in der Vorstellungswelt der Antike entwickelt haben könnte? Der wilde Jagdfalke braucht sich selbst als Typus des edlen Falken; die Singvogel-Miniaturen der »Würger« hätten ihn gewiss nicht hervorbringen können. Ich halte es daher für ausgeschlossen, dass kleine Echsen durch extreme Vergrößerung zu Drachen umgeformt worden sind. Und ich sehe auch keine Alternativen in der übrigen Tierwelt, weder bei Säugetieren noch bei den Vögeln, da es unter ihnen keine Formen gibt, die dem »Habitus« des Drachen entsprechen. Dieser als Mythos bereits existierende Habitus war den Knochen der Dinosaurier nachträglich übergestülpt worden. Von ihnen abgeleitet ist er nicht. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt für die Suche nach dem Ursprung der Drachen. Sehen wir uns nun seine »Figur« genauer an.
Die Figur des Drachen
Die bildlichen Darstellungen von Drachen suggerieren, dass es sich bei ihnen um Reptilien gehandelt haben müsse. Aber da sie erst im letzten Jahrtausend gefertigt worden waren, beziehen sie sich bereits auf die mythische Figur des Drachen. Betrachtet man sie genauer, fallen die Ähnlichkeiten mit Kriechtieren recht oberflächlich aus. Es ist daher nötig, einmal die wesentlichen Eigenschaften der Drachen zusammenzustellen, so wie sie den Überlieferungen zu entnehmen sind.
Diese Fabelwesen waren (1) groß, größer als Menschen jedenfalls, und (2) lang gestreckt, so dass es im Deutschen die Bezeichnung »Lindwurm« gab. Sie bewegten sich (3) langsam auf Beinen, waren also keine beinlosen Schlangen oder »Würmer«. Ihren Körper bedeckte (4) ein Schuppenpanzer, der für die herkömmlichen Waffen der Menschen, wie Spieße und Schwerter, undurchdringlich war. Ihr Blut, das Drachenblut, machte (5) unverwundbar. Drachen stießen (6) aus ihrem zahnreichen Maul Feuer oder giftigen Atem aus, der nach Schwefel stank. (7) Sie lebten vornehmlich in Berghöhlen oder in Höhlen in tiefen Wäldern und
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