Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
aus der Deutung »Fabeltier als geflügeltes Reptil mit lähmendem Blick« hervorgeht. Den »lähmenden – oder starren? – Blick« sollten wir zusammen mit dem Fliegen und der mehr oder weniger ausgeprägten Schönheit als weitere Eigenschaften des Drachen vormerken, die es zu erklären gilt.
Ziehen wir nun eine kurze Zwischenbilanz. Von den 15 als wichtig angesehenen Merkmalen lassen sich höchstens fünf den Reptilien zuordnen, jedoch alles andere als überzeugend. Zehn passen gar nicht. Keine einzige Eigenschaft träfe auf nur ein Kriechtier zu. Beziehen wir Ursprung und Abwandlungen der Bezeichnung ›Drache‹ in die weiteren Überlegungen mit ein, so wird die Schlussfolgerung geradezu unausweichlich: Drachen können keine Tiere gewesen sein. Es handelt sich bei ihnen also nicht um Fabeltiere, sondern um Fabelwesen, deren »Wesen« nicht auf tierische Vorbilder zurückgeht. Was waren sie dann?
Die Antwort hierauf kommt mir ebenso zwingend vor wie die Ablehnung der Tiernatur der Drachen: Es waren Menschen, die sich zu Drachen gemacht hatten. Menschen, die Gründe hatten, anderen Menschen Angst und Schrecken einzujagen, um sie von ihren Drachenhöhlen fernzuhalten, die aber dennoch von den Menschen der Gegend mit dem versorgt werden wollten, was sie nötig hatten, eben weil sie Menschen waren.
Menschengemachte Drachen
Sehen wir uns die einzelnen Eigenschaften nun unter der Annahme an, dass es Menschen gewesen waren, die sich als Drachen darstellten. Die Größe (1) bedeutet, dass es nicht nur ein Mensch oder einige wenige Menschen gewesen sein können, sondern Gruppen, die – hintereinander gereiht und in eine »Drachenhaut« gehüllt – den Drachen»wurm« (2) gebildet hatten. Diese Menschen sollten ein starkes Interesse gehabt haben, unerkannt zu bleiben. Sie bewegten sich dabei zwangsläufig langsam (3) und unter der Last der Schutzhülle schwerfällig. Diese war als »Schuppenpanzer« (4) ausgebildet, bestand also aus Platten aus Metall, das so hart war, dass die gebräuchlichen Pfeile, Schwerter und Spieße daran abprallten. Hergestellt wurde diese Panzerung aus glutflüssig geschmolzener Eisenlegierung, dem »Drachenblut« (5), das unverwundbar machte, außer der Gegner kannte die Position des Schlussstücks. Siegfried, der Nibelungenheld, hatte das »Lindenblatt« – die Bezugnahme auf den Lindwurm drängt sich in dieser Bezeichnung geradezu auf – am Rücken. Das ist eine der üblichen, dem Gegner zugewandten Kampfesweise gemäße Position der verwundbaren Stelle. Sie entspricht der »Achillesferse« der Flüchtenden, die nur beim Weglaufen tödlich getroffen werden konnte. Punkt (6), das Maul, das Feuer spie, giftigen Atem ausstieß und nach Schwefel stank, stelle ich zurück, um weitere Indizien dafür vorzubringen, dass sich Menschen als Drachen verkleidet hatten. Die Betrachtung der Lebensweise der Drachen wird ganz von selbst zu einer plausiblen Erklärung für dieses Attribut führen. Denn sie lebten (7) in Höhlen, und zwar in Gebirgen, und rumorten darin (8), d.h., sie machten einen bedrohlich anzuhörenden Lärm. Nun wirken bekanntlich Hohlräume ganz allgemein als Schallverstärker, aber wenn aus den Eingängen zu den Drachenhöhlen ein Grollen und Getöse wie bei Vulkanausbrüchen kam, so deutet das auf unterirdische Feuer, Sprengungen oder schwere Schläge hin. Folglich arbeiteten die Drachen in den Bergen. Das Ergebnis ihrer Tätigkeiten waren Schätze (9), nämlich Edelsteine und/oder Gold. Die Schatzsuche verrät das Motiv des Rumorens im Berg und der Arbeit in Höhlen. Dass die Bergleute als Menschen selbstverständlich auf menschengerechte Nahrung (10) angewiesen waren, die von der in der Umgebung lebenden Bevölkerung beigeschafft werden musste, versteht sich ebenso von selbst wie der Bedarf an (Jung)Frauen (11) bei längerer Anwesenheit. Schließlich verließen (12) die »Drachen-Menschen« die Gegend wieder, wenn die Erz- oder Edelsteingänge ausgebeutet waren. Die Reste verrieten der örtlichen Bevölkerung, dass die Drachen in ihren Höhlen Schätze gehortet hatten. Edelmetalle und Edelsteine kommen nur in ganz bestimmten Gebirgen vor, nämlich in solchen aus Urgestein oder mit erdgeschichtlich alter vulkanischer Durchdringung, nicht jedoch in den geologisch jungen, aus Meeresablagerungen entstandenen und aufgefalteten Kalkgebirgen.
Auf Europa bezogen, sollten derartig tätige »Drachen« also im Ural, in den alten Mittelgebirgen Böhmens, Ostbayerns, im Erzgebirge
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