Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
erhalten geblieben sein, wie mitunter angenommen worden war. Und selbst wenn es sie zur Menschenzeit noch gegeben hätte, wären die gewaltigen Reptilien keine sonderliche Gefahr gewesen, da sie für uns zu langsam waren. Elefanten können auf kurze Strecken erstaunlich schnell laufen und, einmal in Wut geraten, Menschen bedrohen oder töten. Doch Mythen, die dem Drachen einigermaßen vergleichbar wären, ranken sich nicht um solche »sanften Riesen«, etwa deren Eiszeitform des Mammuts. Zudem ist das Spektrum existierender Großtiere wohlbekannt. Im Innern des Kongobeckens suchen zwar Abenteurer immer noch nach dem dort sagenhaften Mokele, bei dem es sich um einen Dinosaurier handeln soll, aber ihre Expeditionen blieben genauso erfolglos wie die Suche nach dem Yeti, dem Schneemenschen auf entlegenen, eisigen Höhen des Himalaja. Längst können wir sicher sein, dass es keine Drachen in Form von überlebenden Dinosauriern mehr gibt. Denn auch die großen Reptilien unterliegen der Naturnotwendigkeit, in Beständen, in Populationen zu leben und sich fortzupflanzen. Einzelstücke können nicht auf Dauer existieren. Die Lebenserwartung der am längsten unter allen größeren Tieren lebenden Kriechtiere, der Riesenschildkröten, übertrifft selten 100 Jahre und erreicht vielleicht im Extremfall an die 200 Jahre. Kein Wirbeltier wird ein Jahrtausend alt oder noch älter. Langsam heranwachsenden Tieren, die sich in großen Zeitabständen fortpflanzen, weil ihre Stoffwechselrate niedrig ist, droht sogar ein erhöhtes Aussterberisiko. Denn sie können zu große Verluste nicht schnell genug ausgleichen. Hinzu kommt, dass solche »Rückzugsgebiete« wie die zentralen Kongosümpfe überhaupt nicht zu den Regionen passen, in denen in früheren Zeiten die Drachen angeblich ihr Unwesen getrieben hatten. Das sagenhafte Mokele lebte, so es dieses gäbe, ähnlich abseitig wie die Großwarane der Insel Komodo.
Stecken die Drachen also vielleicht doch nur in den Köpfen von uns Menschen? Verdanken sie ihre spirituelle Existenz den Übertreibungen, zu denen offenbar viele Menschen neigen? Die mentale Übersteigerung spielt sicher eine wichtige Rolle in der Formung der Bilder, die man sich von den Drachen machte. Aber anfangs sollte es dennoch etwas gegeben oder aber sich ereignet haben, das sich für die Vergrößerung ins Fabelhafte eignet. Riesenspinnen, die Jagd auf Menschen machen, sind deswegen gut vorstellbar, weil es kleine, sehr giftige Arten gibt, deren Biss durchaus tödlich sein kann. Die faustgroßen, haarigen Vogelspinnen des tropischen Südamerika sind zwar vergleichsweise harmlos, aber durch ihre schiere Größe und bedrohliche Bewegungsweise wirken sie furchteinflößend. Die Spinnenangst ist uns angeboren. Und nicht nur uns Menschen allein. Auch Schimpansen und andere Primaten ängstigen sich vor ihnen und gleichfalls vor Schlangen. Dass manche Menschen ausgeprägte Phobien gegen diese Gifttiere entwickeln und die allermeisten auch ohne besondere Angstgefühle vorsichtig Distanz halten, hat also gute Gründe. Was schon in der kleinen Version lebensgefährlich sein kann, lässt sich leicht zum ganz großen Schrecken nachvergrößern. Aus der mit einem Stock in Schach zu haltenden Giftschlange wird schließlich die ganze Menschen verschlingende Riesenschlange; aus der Vogelspinne das Spinnenmonster. Ein entsprechendes Phänomen hatte ich bereits bei der siebenköpfigen Hydra beschrieben, die Herakles töten musste. Siege über stark übertrieben dargestellte Gefahren machen bekanntlich Helden und erheben sie. In Kreisen von Großwildjägern geht es immer noch um das größte Stück mit der besonders kapitalen Trophäe. Die »Rekorde« werden sogar genauestens ausgemessen. Solchen »Helden« fielen die größten Elefanten, Löwen und Büffel zuerst zum Opfer. Längst gäbe es keine »kapitalen Hirsche« mehr, hätte ihr Geweih nicht den besonderen Trophäenwert, dass es sich doch immer wieder lohnt zuzuwarten, bis dieser oder jener Hirsch die angestrebte Geweihgröße erreicht hat.
Übertreibungen sind wie die Selbstdarstellungen als Held so tief in unserem Menschsein verwurzelt, dass wir stets damit rechnen müssen, dass alles »halb so schlimm« war oder ist, wie es erzählt wird. Aus den täglichen Übertreibungen, von denen die Medien unserer Zeit leben, wissen wir, dass wir gerade das nicht glauben sollten, was uns als besonders sensationell dargeboten wird. Dabei stecken wir in einer psychologisch
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