Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
den Drachen müssten Kriechtiere, Reptilien, gewesen sein. Das scheint so gut wie sicher. Zumindest passen die üblichen Schilderungen zur Figur des Drachen am besten zur Körperform des Kriechtieres. Die zoologische Betrachtung verlangt Präzisierung: Schlangen bilden eine eigene Kategorie. Das Fehlen von Beinen, ihr »auf dem Bauche kriechen«, unterscheidet sie ganz klar von den beiden anderen Hauptgruppen der Reptilien, den Echsen und den Schildkröten. Die Schildkröten können wir bei der Suche nach dem Ursprung des Drachen ausschließen. Ihr Panzer, in den sie sich wie in ein sicheres Haus zurückziehen, entspricht der Panzerung der Drachen ebenso wenig, wie das Rundliche ihrer Körper zur langgestreckten Form des Drachen passt. Es ist der Echsentyp, der mit weitem, drohendem Maul voller spitzer Zähne, mit Schuppenpanzer, Fortbewegung auf Beinen und langem Schwanz dem Typ des Drachen entspricht. Drachen waren groß, beeindruckend groß und furchteinflößend. Dass sie in alten Abbildungen oft mit Flügeln dargestellt werden, soll vorerst die Suche nicht behindern oder auf (nicht existierende) Flügelechsen einschränken, denn solche Zusätze können später hinzugekommen sein, als der Mythos bereits existierte und die Freiheiten zur zweckdienlichen Ausformung bot. Somit hat unsere Suche bei den Riesenechsen zu beginnen. Diese Untergruppe der Echsen bietet zwei konkrete Möglichkeiten sowie eine Rekonstruktion und darüber hinaus ein »Psycho-Modell«.
Die beiden konkret in Frage kommenden Reptilien(formen) sind die großen Warane und die Krokodile. Von Waranen gibt es mehr als 30 Arten in Afrika, Süd- und Südostasien und Australien. Ihr Größenspektrum reicht von 20 Zentimetern bis gut drei Metern Körperlänge, ihr Gewicht von 20 Gramm bis 150 Kilogramm. In der Körperform entsprechen sie am ehesten den Vorstellungen, die man sich gemeinhin von Dinosauriern macht, wenngleich nicht annähernd in deren Vielfältigkeit. Warane können sehr schnell laufen, weil ihr Körper von Beinen getragen wird, die ihn besser als bei unseren Eidechsen vom Boden abheben. Denn ihre kräftigen Beine setzen näher zur Körpermitte hin an. Das erleichtert die Aufrichtung. Die Zähne in den Gebissen der Warane eignen sich zum Herausreißen von Fleischstücken auch aus größerer Beute. Die größten Warane, die Komodowarane ( Varanus komodoensis ) leben auf der indonesischen Insel Komodo. Sie können mit ihren ausgesprochen kräftigen Gebissen durchaus Hausbüffel töten. So sind sie als einzige Art der Großwarane auch für Menschen gefährlich. Alle übrigen Warane stellen keine Bedrohung dar. Geraten sie selbst in Bedrängnis, weil sie ihres Fleisches wegen gejagt werden, verteidigen sie sich mit heftigen, sehr schmerzhaften Schlägen ihres langen, zur Spitze hin peitschenartig auslaufenden Schwanzes. Beißen sie zu, können sie insofern gefährliche Verletzungen verursachen als die von den spitzen Zähnen verursachten Wunden häufig Leichengift tragen. Doch alles in allem bleiben die bis zwei Meter langen südostasiatischen Bindenwarane ( Varanus bengalensis ) und die ähnlich großen afrikanischen Nilwarane ( Varanus niloticus ) harmlos. Bedrohungen von Menschen, ganzen Siedlungen oder Landstrichen gehen – und gingen sicherlich – von ihnen nicht aus. Wo sie vorkommen, können die Menschen seit jeher mit ihnen umgehen. Das gilt grundsätzlich auch für den mit Abstand größten der Warane, den auch als »Komodo-Drachen« bezeichneten Komodowaran. Er kommt nur auf den kleinen (indonesischen) Inseln Komodo, Rindja und Flores vor. Den Europäern war er bis zur Kolonisierung der südostasiatischen Inselwelt durch die Holländer im frühen 17. Jahrhundert unbekannt. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass dieser Waran in früheren Zeiten mit der Vorstellung von Drachen verbunden war und als stark vergrößerte Version in den arabischen, indischen oder persischen Bereich Eingang gefunden hätte. Nur die kleinen, für das Leben der Menschen auf dem Land ziemlich bedeutungslosen Versionen der »Drachen von Komodo« existierten in Afrika und Südasien. Es darf daher mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass sie als Vorbild für das Schrecknis, das Drachen verbreiteten, geeignet gewesen wären. Inzwischen ausgestorbene, bis in frühe historische Zeiten lebende Riesenwarane sind nicht bekannt. Es gibt keinerlei Fossilfunde, die auf eine entsprechende Verbreitung in den »Kulturraum des Drachen« verweisen könnten. Die
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