Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Mengen von Muschelschalen und Gehäusen von Meeresschnecken zeugen davon an den Küsten vom Mittelmeer bis zum Nordmeer, wo die Muschelhaufen Kjökkenmöddinger (dänisch für Küchenabfälle) genannt worden waren. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Brasilien, sind sie als Sambaquís bekannt. Die beiden Hauptarten zur Purpurgewinnung, die schon genannte Purpurschnecke und die Herkuleskeule oder das Brandhorn, kommen an den Küsten des Mittelmeeres bis zum Atlantik weit verbreitet vor. Sie leben in wenigen Metern Wassertiefe auf schlickigem, verschlammtem Felsgrund und in Seegraswiesen. Sie sind »räuberisch«, greifen also andere Weichtiere an, bevorzugen aber tote Tiere als Nahrung. Mit Kadavern lassen sie sich in Reusen locken und ködern. Nicht die Schnecken sind also das Problem, sondern die Gewinnung des Stoffes aus ihren Drüsen, der an der Luft und durch Lichteinwirkung zu grüner, blauer und roter bis tief purpurblauer Farbe umschlägt. Sehen wir uns dazu die allerdings nach wie vor recht unklare Herkunft der Phönizier noch etwas genauer an – soweit das geht. Könnten sie doch irgendeine wichtige Beziehung zu den Flamingos gehabt haben?
Falls es zutrifft, dass sie vom Sinaigebiet an die Küste des Libanon gekommen waren, lebten sie, zumindest für längere Zeit, in der direkten Nachbarschaft des Nildeltas. Wie bereits betont, ist es kaum vorstellbar, dass sie aus dem Landesinneren ans Meer gekommen sind und gleich danach oder in kürzester Zeit so hervorragende Seefahrer wurden, dass sie in ihren nautischen Fertigkeiten den Griechen Konkurrenz machten und sie sogar übertrafen. Im Landesinneren hätten sie, wie die Stämme Israels, Hirtennomaden und Ackerbauern gewesen sein müssen. Die oben skizzierte Vorgeschichte der Phönizier als Semiten aus Kanaan passt überhaupt nicht zu ihrem Verhalten. Sie suchten nach den besten Häfen, nicht nach Acker- oder Weideland. Um das Hinterland kümmerten sie sich, abgesehen von den Zedern zum Bau ihrer Schiffe, nahezu gar nicht. Daraus ist zu schließen, dass sie schon vor ihrer Ankunft am Fuß des Libanon Seefahrer gewesen waren. Herodot meinte, sie wären vom Persischen Golf gekommen, ohne das näher begründen zu können. Ziehen wir diese Möglichkeit in Betracht, wirft sie die Frage auf, welchen Weg die Vorfahren der Phönizier von dort ans Mittelmeer genommen haben könnten. Der direkte Weg hätte durch großenteils wüstenhaftes Gelände geführt, das für Seeleute alles andere als einladend gewesen wäre. Aus oder über Kanaan seien sie ans östliche Mittelmeer gekommen, so die nähere Präzisierung. Im Altertum war Kanaan jedoch kein genauer umrissenes Gebiet. Es grenzte südwestlich an Syrien und reichte an der Küste bis Ägypten. Später, nach den Angriffen der rätselhaften Seevölker, vor allem aber unter römischer Herrschaft, bürgerte sich die Bezeichnung ›Palästina‹ ( Peleset ) für die Region ein. Sie war Ägypten hinreichend nahe gerückt. Somit müssen die Phönizier keineswegs auf dem Landweg vom Persischen Golf ans östliche Mittelmeer gekommen sein. Für Seefahrer weit besser geeignet und plausibler wäre ihre Ausbreitung entlang der Küsten Arabiens hinein ins Rote Meer und von dort über die Suez-Senke zum Mittelmeer gewesen, auch wenn das nach einem großen Umweg aussehen mag. Aus der Suez-Senke an der Halbinsel Sinai gibt es archäologische Funde, die mit den Phöniziern in Verbindung gebracht werden.
Wir erfahren noch mehr, wenn wir uns dem Roten Meer zuwenden. Der Pharao Necho II., der von 610 bis 595 v.Chr., also in phönizischer Zeit regierte, hatte einen Kanal vom Roten Meer zum Mittelmeer bauen wollen. In den vier Jahren Bauzeit von 600 bis Ende 596 v.Chr. ließ sich jedoch das durch den Wadi Tumilat zum Nil führende Bauwerk nicht vollenden. Necho II. starb im Februar 595 v.Chr. Damit erlebte er nicht mehr, was er auch in Auftrag gegeben hatte: die Umschiffung Afrikas durch phönizische Seefahrer. Sie fand zwischen 596 und 594 v.Chr. statt. Bezeichnenderweise nahmen die Phönizier aber nicht den Weg nach Westen. Sie fuhren südwärts durch das Rote Meer, umsegelten Afrika mit dem Passatwind von Osten her und kehrten durch die Säulen des Herkules (Gibraltar) übers Mittelmeer zurück. Das bedeutet, dass die Phönizier das Rote Meer und die angrenzenden Gewässer des Indischen Ozeans sehr wohl schon gekannt hatten, sonst hätten sie diesen Weg wohl kaum genommen, sondern sich zuerst den bekannten nordafrikanischen
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