Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
schnellen/reißenden Wassers‹ bedeutet hatte. Ein gutes halbes Jahrtausend fortschreitender Entwicklung in der Sprache wies ihm einen unpassenden Zusammenhang zu, weil sich sein Name so starr an die alte Form gebunden hielt. Das ist nicht allzu verwunderlich. In vielen ländlichen Regionen schafft es die örtliche Bevölkerung nicht einmal bei den Menschen, sich von den alten, in der Gegenwart nichts mehr sagenden Namen zu lösen und die richtigen zu verwenden. Zäh hängen diese Namen auf dem Hof und gehen auf die jeweiligen Besitzer über, ob diese das wollen oder nicht. So blieb in meinem Heimatdorf der Name ›Förg‹ für einen Bauernhof erhalten, der vor langer Zeit einem ›Förg‹ (= Schiffsführer in der Innschifffahrt) gehört hatte, obwohl es die Treidel-Schifffahrt längst nicht mehr gab und die Besitzer schon in mehreren Generationen andere Familiennamen trugen. Vor 50 Jahren wusste schon niemand mehr im Dorf, was der alte Name bedeutet hatte. Aber er hielt sich. Dass falsche alte Bezeichnungen schwer auszurotten sind, drücken die Schwierigkeiten aus, die wir mit den Walen haben. Immer wieder werden sie ›Walfische‹ genannt. Es gibt viele solcher Beispiele.
Alkyone und Keyx
Die Benennung ›Eisvogel‹ könnten wir demnach zur Belanglosigkeit zurückstufen. Er heißt eben so. Um eindeutig zu sein, muss ein Namen nicht unbedingt eine bezeichnende Eigenschaft ausdrücken, die dem Träger tatsächlich zukommt. Was für ein Vogel mit ›Eisvogel‹ gemeint ist, wissen wir. Doch da sich mit dieser Bezeichnung noch andere, viel weiter in die Historie zurückreichende Merkwürdigkeiten verbinden, lohnt es sich, weiter nachzuforschen. Der Eisvogel trägt die wissenschaftliche Bezeichnung Alcedo atthis . Der Gattungsname Alcedo bezieht sich auf die griechische Sagengestalt der Alkyone , der Artname atthis auf Attika in Griechenland. Linné, zu dessen Zeit, Mitte des 18. Jahrhunderts, der Eisvogel in Südschweden eine Seltenheit war, bezog sich bei der Namensgebung auf diesen Stoff aus der griechischen Mythologie. Der Sage nach waren Alkyone und ihr Gatte König Keyx in Eisvögel verwandelt worden. Wie es dazu kam, erzählt Ovid in den Metamorphosen .
Alkyone, die Tochter von Enarete und des Windgottes Aiolos, liebte ihren Gatten Keyx auf das Innigste. Dieser musste zur Zeit der Frühwinterstürme zur Insel Klaros segeln, um das dortige Orakel aufzusuchen. Alkyone, die als Tochter des Windgottes die Stürme kannte, versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten. Der befürchtete Sturm kam. Keyx’ Schiff wurde zerstört. Er ertrank. Bevor er unterging, rief er ein letztes Mal nach Alkyone. Sie betete indessen zu den Göttern. Ihr Flehen rührte diese so sehr, dass sie Morpheus, den Traumgott, beauftragten, Alkyone die Nachricht zu überbringen. Morpheus nahm die Gestalt von Keyx an, legte sich zur schlafenden Alkyone und flüsterte ihr zu, dass er ums Leben gekommen sei. Da wollte Alkyone auch nicht mehr am Leben bleiben. Sie ging am Morgen zum Strand. Dort sah sie den toten Körper ihres Mannes in den Wellen. Sie stürzte sich von einer Klippe, um sich das Leben zu nehmen, wurde aber wie auf Flügeln zu dem Toten getragen. Die Götter hatten sie in den Vogel Halcyone verwandelt. Als sie sich auf ihren Gatten warf, war auch dieser zum Vogel geworden. So waren sie nun doch wieder vereint. Die Götter gewährten ihnen, den Halcyonen , im Dezember eine ganze Woche Windstille, in der sie ihr Nest auf dem Meer bauen und die Eier bebrüten konnten. Nachdem die Jungen geschlüpft waren, legten die Winterstürme wieder los und machten das Meer unruhig. Die ›halkyonischen Tage‹ gelten seither als Tage der Erholung in stürmischen Zeiten. Wohltönend und laut klingen die Rufe der Halcyonen übers Meer. Und die Vögel werden manchmal mit ihren Jungen gesehen.
So weit die Kurzversion von Keyx und Alkyone. Es gibt sie in mehr oder weniger ausgeschmückten Versionen, die hier nicht weiter behandelt werden, weil es um den Hintergrund, den Kern der Geschichte, und ihre ›Moral‹ geht. Halten wir dazu fest: Der römische Dichter Ovid, genauer Publius Ovidius Naso, lebte von 43 v.Chr. bis zum Jahre 17 n.Chr. Für seine ›Verwandlungen‹ ( Metamorphosen ) benutzte er vorwiegend Themen und Mythen aus der hellenistischen und vorhellenistischen Zeit. Seine Darstellung ist also eine Nachdichtung viel älterer Stoffe, die er an die römische Zeit anpasste. Wir können daher keineswegs sicher sein, um welchen Vogel, um
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