Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
jedoch so gut wie nie über die Alpen. Im Osten zwingen die viel härteren kontinentalen Winter die Schwäne zu Flügen bis zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer. Ausnahmsweise ziehen sie sogar bis in die Ägäis und im Extremfall bis an den Nil weiter. Das beweist ein Wandbild, das im Buch von Joachim Boessneck (1988) enthalten und als Bild mit Höckerschwänen, wohl wegen der gekrümmten Haltung der Hälse, interpretiert worden ist. Boessneck schreibt dazu: »Eine bisher einmalige Besonderheit bildet der Fang von Höckerschwänen Cygnus olor in einem Schlagnetz. Aber Schwäne ziehen nur ausnahmsweise bis an den Nil nach Süden.« Für dieses ›ausnahmsweise‹ gibt es Gründe.
Schwäne sind sehr schwere Vögel. Singschwäne erreichen nach Jahren des Alterns ein Gewicht von 8 bis 14 Kilogramm. Höckerschwäne können sogar bis über 20 Kilogramm schwer werden. Sie haben bei diesem Gewicht große Mühe, sich aus dem Wasser zu erheben. Beim Start laufen sie mit lautem Geklatsche längere Strecken heftig flügelschlagend über die Wasseroberfläche. Dabei beschleunigen ihre mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen ausgestatteten Füße auf dem Wasser wie Ruderschläge. So eine schwerfällige Flugweise kann man durchaus als ein ›Gehen mit Flügeln‹ charakterisieren und vom üblichen, so schwerelos wirkenden Vogelflug abgrenzen. Denn man spürt förmlich, wie anstrengend es für die Schwäne ist, ihre Körper in die Luft zu bringen. Entsprechend viel Kraft kostet sie der Fernflug in die Winterquartiere. Sie dehnen diesen nicht weiter aus als unbedingt nötig. Dazu kommt es, wenn die nordisch-kontinentale Kälte außergewöhnlich weit nach Süden vordringt und die Flachküsten auch am Schwarzen Meer mit Eis bedeckt. Solche Kaltluftvorstöße sind meistens mit schweren Stürmen verbunden. Ist die Kaltluft eingedrungen, herrscht für einige Zeit Ruhe, bis sie im östlichen Mittelmeerraum von wärmeren Luftmassen wieder in Bewegung gesetzt und mit ihnen gemischt wird. Bei solchen Wetterlagen, wenn der Nordwind besonders heftig zwischen Kleinasien und dem griechischen Festland südwärts fegt, geraten Familien von Schwänen bis an die Küsten von Attika. Gibt es Buchten mit Seegras, suchen sie diese auf. Die Stürme treiben viel Schwemmgut zusammen, das auf dem Meer leicht für schwimmende Nester gehalten werden kann. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn die großen weißen Elternvögel mit ihren Jungen ankommen. Niemand konnte in jenen Zeiten wissen, wo die wirklichen Brutgebiete der Schwäne lagen. Nirgendwo in Griechenland und in der umliegenden bekannten Welt gab es Brutvorkommen dieser Vögel. In der Ruhe nach den Stürmen klagten ihre Rufe weithin hörbar übers still gewordene Meer. Und wie ersichtlich, hielten beide Partner einander die Treue. All das gibt eine perfekte Vorlage für den Mythos von Alkyone und Keyx.
Eine Mythologie dieser Art bietet mehr als nur eine ›Moral von der Geschicht‹. Unerklärliches wurde damit erklärt. Der Mythos half, die Wirklichkeit zu verstehen, mit der man ansonsten nichts hätte anfangen können. Was vor sich ging, zu sehen und zu hören war, musste gedeutet werden. Denn Deutung gibt Sicherheit. Das ist in unserer Zeit nicht anders.
Ovid hatte keine Chance, den Mythos zu verstehen, wenn er die Schwäne und das Phänomen der halkyonischen Tage nicht kannte. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es im westlichen Mittelmeerraum zu seiner Zeit keine Schwäne als Wintergäste. Den Singschwänen aus der Tundra reichten die wiesenreichen Niederungen an der Küste Germaniens und im Norden Galliens zum Überwintern. Das Westliche Meer, das Meer der Hesperiden, der Atlantik, mildert die Winterkälte und drängt sie mit warmem Golfstromwasser hinauf in den Norden bis fast zum Polarkreis. Umso weiter dringt sie im Osten südwärts vor. Zudem handelte es sich zur Zeit der Alten Griechen und des Römischen Weltreichs um eine klimatisch sehr warme Periode. In Britannia, im Süden Englands, gedieh Wein. Pelikane brüteten an der Mündung des Rheins. Rund ums Mittelmeer gab es bedeutend höhere Niederschläge als gegenwärtig. Wie schon erwähnt, begann hinter Karthago, im heutigen Tunesien, nicht die Wüste, sondern dort lag die Kornkammer Roms. Umso härter schlugen gelegentlich die Kaltluftvorstöße zu, die die Schwäne von den nördlichen Küsten des Schwarzen Meeres bis in die Ägäis trieben. Man darf davon ausgehen, dass sie von keinen normalen Winterstürmen begleitet wurden, sondern
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