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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Ihre Jungen werden vorzugsweise in Höhlen am Meer geboren, und zwar jeweils eines im Herbst. Schwimmen sie im Meer, taucht allenfalls ihr Kopf kurz zum Atmen auf. Eisvögel sind im Winter ausgeprägte Einzelgänger. Alt- und Jungvögel lassen sich zu dieser Jahreszeit ohne leistungsstarke Fernrohre nicht unterscheiden. Sie fliegen auch nicht über dem Meer, sondern fischen in Buchten mit klarem, wenig bewegtem Wasser. Bei ihrer Kleinheit fallen sie eher durch den »blauen Blitz« auf, für den man sie halten könnte, wenn sie vorbeisausen. Sie rufen alles andere als laut und klagend, sondern pfeifen kurz und schrill.
    Beide Deutungsmöglichkeiten des Namens scheitern somit an der Natur. Weder der Eisvogel, noch die Mönchsrobbe können im Mythos gemeint gewesen sein. Aber was dann? Bringen wir die Elemente nochmals auf die Reihe und fangen wir mit den halkyonischen Tagen an. Nach den vorausgegangenen, sehr heftigen Spätherbst- oder Frühwinterstürmen (in einem solchen war Keyx ja umgekommen) tritt die windstille Zeit ein, in der sich das Meer beruhigt. Da erscheint auf dem Wasser ein eng zusammenhaltendes Vogelpaar mit (wenigen) Jungen. Diese unterscheiden sich so deutlich vom Elternpaar, dass kein Zweifel besteht, worum es sich handelt. Die Vögel müssen, vom Land aus betrachtet, gut sichtbar (gewesen) sein. Ihre klangvollen, klagenden Rufe tönten weithin. Also waren es Großvögel. Sie sollten auch ungefähr zu den Menschen passen, die in sie verwandelt wurden, und ihr Flug sollte entsprechend schwer, eher abwärts gleitend, gewesen sein, dass er mit ›Gehen auf Flügeln‹ ( al-cedere ⇒ alcedo ) lateinisch zu umschreiben gewesen wäre. Schließlich dürfte Ovid diese Vögel nicht gekannt haben, da es keinen eigenen lateinischen Namen für sie gab.
    Diese Reihung schränkt die Möglichkeiten sehr stark ein. Der Eisvogel fällt aus. Sturmtaucher, deren Rufe klagend klingen, ebenfalls, weil sonst nichts mit ihnen und ihrer Lebensweise übereinstimmt. Da es sich eher um eine Rarität als um gewöhnliche, allgemein bekannte Vögel gehandelt haben sollte, kann die Suche auf gelegentliche, zur Zeit der Ruhe nach den ersten Stürmen als Wintergäste auftretende Vögel konzentriert werden. Unter diesen gibt es einen Kandidaten, auf den alles passt: Es ist dies der Singschwan ( Cygnus cygnus ). Als Vogelart bringt er sogar noch etwas mit, was bei Ovid nicht angesprochen worden war, aber den Vorgang in besonderer Weise bekräftigt, nämlich das weithin leuchtende weiße Gefieder. Es entspricht dem weißen Kleid der Geläuterten, den von den Göttern Begünstigten, die ihre Trauer überwinden und zu einem neuen Sein aufsteigen konnten.
    Singschwäne brüten in der arktischen Tundra, also in jenen Gegenden, die noch hinter den Ländereien der Hyperboräer lagen. Mit Hyperboräer, altgriechisch die Menschen jenseits ( hyper ) des Nordwindes ( boreas ), wurden Völker wie die Skythen und Sarmaten nördlich des Schwarzen Meeres zusammengefasst; Völker am Schwarzen Meer, dem Meer der Nacht(richtung). Selbst diese kannten die Brutgebiete der Schwäne nicht, die an die Küsten des Pontus Euxinus, wie das Schwarze Meer zur Zeit des Klassischen Altertums hieß, zum Überwintern geflogen kamen. Zu Tausenden sammelten sich Sing- und Höckerschwäne ( Cygnus olor ) auf den flachen Meeresbuchten an der Halbinsel Krim und im Asowschen Meer, das damals Palus Maeotis hieß. In diesen Buchten entwickelten sich den Sommer über weitflächig Unterwasserwiesen aus Wasserpflanzen. Die Schwäne beweiden diese den Winter über und ziehen im Frühjahr wieder in ihre Brutgebiete zurück. Die großen Höckerschwäne haben es nicht so weit an die baltischen Seen wie die Singschwäne, die noch weiter nordwärts an die kleinen Gewässer der Waldtundra und der Tundra fliegen, wo sie auch an Land viel Nahrung zu sich nehmen. Beide Arten von Schwänen tragen ein rein weißes Gefieder, aber ihre flüggen Jungen sind im Winter noch fleckiggrau und deutlich kleiner als die Eltern. Der rotschnäbelige Höckerschwan gibt nur ein nasales Knurren von sich, wenn er sich gestört fühlt. Im Englischen heißt er deshalb mute swan , der stumme Schwan. Der Singschwan hat einen schwarz-gelben Schnabel. Er ruft sehr laut und klangvoll »klagend«. Singschwäne ziehen häufig familienweise in die Winterquartiere. Diese reichen in Mittel- und Westeuropa nur bis in den Raum um Nord- und Ostsee. Selten fliegen kleine Gruppen von Singschwänen tiefer ins Binnenland,

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