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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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welches Tier es sich ursprünglich gehandelt hatte, für das er den lateinischen Ausdruck alcedo verwendete. Dem Lateinlexikon gemäß bedeutet alcedo Eisvogel und alcedonia die Eisvogel-Brutzeit bzw. die stille Winterszeit. Da es jedoch auch den Ausdruck alcyon im Lateinischen gibt, der gleichfalls Eisvogel bedeuten soll, stehen merkwürdigerweise zwei ähnliche Namen für ein und denselben Vogel. Wenn denn tatsächlich nur ein bestimmter Vogel damit gemeint war. Nehmen wir diesen Befund nicht einfach als ›gesichertes Wissen‹, weil es so ›im Buche steht‹, nämlich im Lateinlexikon, sondern halten wir die griechische Version alcyon von der eher typisch lateinischen alcedo versuchsweise voneinander getrennt. Dann lässt sich letztere in zwei einfache lateinische Wortteile zerlegen, die getrennt wie auch zusammen einen Sinn ergeben. Cedo vereint ein Bündel von Bedeutungen, die sich alle auf die Fortbewegung (»gehen« im weitesten Sinne) beziehen, und al ist Hauptbestandteil des lateinischen Wortes für Flügel ala . In Verbindungen mit anderen Wörtern fällt das zweite ›a‹ häufig weg. Demgemäß würde al-cedo einfach bedeuten, sich auf Flügeln fortbewegen, also fliegen. Die Schilderung Ovids passt dazu, denn Alkyone stürzt sich ins Meer, gleitet oder ›fliegt‹ aber irgendwie auf den Körper ihres toten Gatten. Das ist kein Flug himmelwärts, frei und wie schwerelos nach Art der meisten Vögel, sondern ein »schwerer Flug« wie ein letzter Gang zum toten Gatten. Alcedo beschreibt daher möglicherweise als Sprachbild dieses Hingleiten. Der Eisvogel muss damit überhaupt nicht gemeint gewesen sein, da nichts an diesem Vogel zum Mythos von Alkyone passt.
    Betrachten wir nun die griechische Form (H)alkyon . Es ließe sich mit »Meer-Hund« übersetzen. Der erste Wortteil enthält (h)alys , das Meer, der zweite kyon , Hund. Daraus ergibt sich eine ganz andere Bedeutung als Eisvogel. Hätte (H)al-kyone eine Mittelmeer-Mönchsrobbe ( Monachus monachus ) meinen können? Diese mehr als menschengroßen Meeressäuger leben an Inseln der Ägäis in mit dem Meer verbundenen Höhlen, an unzugänglichen Felsklippen und an einsamen Stränden. Sie rufen laut bellend und klagend (jaulend). Ihr Schreien ähnelt durchaus den Lautäußerungen von größeren Hunden. Eine verwandte Art von Robben, der Seehund, trägt im Deutschen ebenfalls die Verbindung von Meer (›die See‹) und Hund. Mönchsrobben waren zur hellenistischen Zeit sicherlich viel häufiger als in der Gegenwart, in der sie vom Aussterben bedroht sind. Es gab noch keine Jagd mit Gewehren, keine großen Fischfangnetze, in denen sie ertrinken, und das Meer war nicht überfischt, sondern eher überreich an Fischen, von denen sich die Robben ernähren. Die Körpergröße der Mönchsrobben würde ungleich besser zum Menschen passen als der winzige Eisvogel. Ihre klagende, weithin schallende Stimme allemal, während die Pfiffe des Eisvogels an stillen Gewässern am besten zu hören sind. Im Rauschen der Brandung des Meeres gehen sie auch ohne Sturm akustisch unter. Ob die Götter das Klagen Alkyones gehört hätten, wenn es Eisvogelpfiffe gewesen wären? Mehr noch. Es ist stark zu bezweifeln, dass Ovid die Mittelmeer-Seehunde, die Mönchsrobben, gekannt oder von deren Existenz gewusst hat. Es gab sie in der näheren Umgebung Roms nicht. (H)Alkyone hätte er ohne Kenntnis der Robben aber nicht mit einem römisch-lateinischen Wort benennen können. Alcedo hingegen beschreibt, so meine Deutung stimmt, den Vorgang der Verwandlung.
    So betrachtet, würden sich verschiedene Einzelteile des Halkyone-Mythos ganz gut zusammenfügen, wenn nicht andere Elemente in der Geschichte der beiden einander in so starker Liebe zugetanen Gatten enthalten wären. Diese Teile weisen die von Göttern gnädig Verwandelten eindeutig als Vögel aus. Der Windgott gewährt dem Paar (1.) die ruhige Zeit der halkyonischen Tage (2.) im Winter (3.), damit es nisten und brüten kann (4.). Und wenn die Jungen (5.) geschlüpft sind, leben die Stürme wieder auf. Gelegentlich (6.), keineswegs regelmäßig, sind dann Keyx und Alkyone als einander zugetanes Paar mit ihren Kindern zu sehen, aber sie bleiben draußen auf dem Meer und kommen nicht an Land. Keines dieser Elemente des Mythos stimmt mit dem Lebensablauf von Mönchsrobben oder von Eisvögeln überein. Mönchsrobben leben gesellig. Allein oder paarweise kommen sie in normalem Zustand nie vor. Als Säugetiere nisten und brüten sie nicht.

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