Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
›dem Schwan‹. Leda war die Gattin des spartanischen Königs Tyndareus. Ihre Schönheit reizte Zeus. Als Leda am Berg von einem Adler angegriffen wurde, nahm er die Gestalt eines Schwans an, wehrte den Angreifer ab und schwängerte sie anschließend gleich. In der Nacht schlief sie aber auch mit Tyndareus, ihrem Mann. Damit nahm die Tragödie um Troja ihren Lauf. Denn aus der Verbindung mit Zeus, dem Schwan, gingen die Zwillinge Helena und Polydeukes hervor, von ihrem Mann aber die zweiten Zwillinge Klytaimnestra und Kastor. Helena wurde mit König Menelaos von Sparta vermählt, Klytaimnestra mit dessen Bruder Agamemnon, dem König von Mykene. Nachdem Helena nach Troja entführt worden war, führte Agamemnon die Griechen gegen Troja, um Helena zurückzubringen. Die Folge war der Trojanische Krieg. Wegen der Verbindung mit dem Schwan soll Leda die Kinder allerdings nicht direkt geboren haben, sondern »Eier«, die sie an (oder in?) ihrem Bauch ausbrütete. Einer abgewandelten Version zufolge stammte das (Kuckucks)Ei, das Leda untergeschoben worden war, von der Rachegöttin Nemesis. Sie wäre demnach nur die Milchmutter (Amme) der schönen Helena gewesen. Bilder von der Verbindung Ledas mit dem Schwan entstanden in der Renaissance. Leonardo da Vinci hatte 1503/05 eine stehende Leda gemalt, der sich ein Schwan intim nähert. Von Michelangelo Buonarroti (1529/30) stammt die wohl berühmteste Version der liegenden Leda, die gerade von einem Schwan bestiegen wird. In einem frühen Werk kopierte Peter Paul Rubens das Motiv. Einen weithin bekannt gewordenen Stich schuf Nicolaus Beatrizet. Dieser enthält auch die in anderen alten Quellen erwähnten Zwillinge Kastor und Pollux sowie ein zerbrochenes Ei. Aus der griechischen Antike stammt eine athenische Statue, die Leda zeigt. Aus der Römerzeit ist eine Wandmalerei mit diesem Motiv aus Pompeji erhalten geblieben. Filarete schuf 1433/45 eine Darstellung davon auf der Bronzetür des Petersdoms in Rom und gab damit den Auftakt für die Beschäftigung mit diesem antiken Mythos in der Renaissance. Viele Maler nutzten ihn bis in die Gegenwart.
Dass in einer Zeit, in der sexuelle Vorgänge für die öffentliche Darstellung tabu waren, das Motiv der Leda mit dem Schwan eine große Attraktivität entwickelte, versteht sich von selbst. Es war in der Renaissance ohnehin Mode geworden, auf die »alten Zeiten« des Klassischen Altertums zurückzugreifen, um aus ihnen in der unsicheren Gegenwart neue Orientierung zu schöpfen. Renaissance meinte ja die Erneuerung, die Wiederauferstehung, nach den Seuchenzügen der Pest und den Unwetterkatastrophen, die große Teile Europas seit Mitte des 14. Jahrhunderts heimgesucht hatten. In der bislang unangefochten wegweisenden christlichen Kirche gärte es. Die Geistlichkeit war gespalten zwischen Traditionalisten, die Prunk ansammelten und in Saus und Braus lebten, und den Erneuerern, die zu Bescheidenheit und Buße mahnten. Flagellanten, Menschen, die sich selbst geißelten, zogen durch die Städte, gefolgt oder angeführt von Bettelmönchen, die das Primat der Armut vorleben wollten. Der von der Pest verursachte Menschenmangel traf vor allem die Kirche, denn sie war mit Abstand der größte Grundbesitzer. Arbeitskräfte waren gefragt, aber schwer zu bekommen in dieser Zeit und teuer. Weite Ländereien verödeten. Der während des Hochmittelalters zurückgedrängte Wald breitete sich wieder aus. Da die Kirche den Gläubigen nicht mehr in der früher gewohnten Weise Halt und Hoffnung geben konnte, wurde manch Althergebrachtes bezweifelt. Die Neuzeit wuchs heran. Mit dem Rückgriff auf das Klassische Altertum, das nun schon rund eineinhalb Jahrtausende lang Vergangenheit war, kamen verschollene Kenntnisse zutage. Und andere Sitten. Bei den Alten ging es offenbar anders zu als in der Gegenwart, vor allem bei den Alten Griechen. Ihre Mythologie steckte voller verborgener, gleichwohl aber als menschentypisch zu erkennender Vorgänge. Manches ließ sich direkt übertragen, weil es leicht nachzuvollziehen war, anderes nicht, weil das aktuelle Vorbild fehlte. Oder auch, weil es gar nicht direkt so benannt werden durfte, wie es gemeint war. Im Hellenismus wurde zwar vieles sehr offen behandelt, aber nicht alles; vor allem nicht alles, was die Königshäuser und die Noblen betraf. Da bediente man sich verdeckter Phrasen und allegorischer Schilderungen.
Um eine Allegorie handelte es sich möglicherweise bei der Vereinigung von Leda mit dem Schwan. Dass
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