Einkehr zum toedlichen Frieden
Ärmeln und eine Wolljacke entscheide. Die Tage
hier sind noch immer sehr warm, aber ich habe schon festgestellt, dass am Abend
oft ein kalter Wind weht. Ich beschließe, Linus im Haus zu lassen, da ich nicht
weiß, ob er Gudrun mag – schließlich hat sie ihn vor dem Putzen in die dunkle
Kammer gesperrt – oder sie selbst Hunde hat, mit denen er sich nicht so gut
versteht wie mit dem Spitz von gegenüber. Fünf Minuten vor dem verabredeten
Termin mache ich mich zu Fuß auf den Weg und stehe dann um Punkt acht vor
Gudruns Tür.
Ihr Elternhaus besteht aus altem Fachwerk und scheint erheblich
geräumiger zu sein als mein neues Domizil. Ich ziehe am Strick einer Glocke vor
dem Haus. Das Läuten hallt weit über die Felder. Niemand öffnet. Kein Hund
schlägt an.
Ich läute noch einmal und setze mich dann etwas verwundert auf eine
Bank vor dem Haus. Vielleicht ist sie nur kurz weggefahren, um Essen aus dem
Restaurant zu holen? Das große Auto im Hof könnte ja auch ihrem Vater gehört
haben.
Die Minuten verrinnen, und mit jeder Minute wird mir banger zumute.
Ist ihr womöglich auch etwas zugestoßen? Ich schiebe diesen düsteren Gedanken
sofort beiseite.
Um zwanzig nach acht mache ich mich auf den Weg zum Hof der Mertes.
Aus Fines Erzählungen weiß ich, dass sich Gudrun so ziemlich um alles kümmert,
was den Nachbarhof angeht. Vielleicht hat ja unerwartet eine Kuh gekalbt, und
sie ist daher nicht abkömmlich.
Aber auch bei Familie Mertes reagiert niemand auf mein Läuten. Ich
gehe in den Stall. Der ist leer. Die Kühe müssen also wieder auf der Weide sein.
Nordrhein-westfälische Kühe, die auf der Nachbarwiese rheinland-pfälzisches
Gras fressen. Fine hat mir das in einem Ton erzählt, als habe sie dem Finanzamt
ein Schnippchen geschlagen. Und das hat sie ja vielleicht auch. Was weiß ich
schon von landwirtschaftlichen Steuern?
Vielleicht ist das Ehepaar Mertes ja zum Essen ausgegangen. Aber wo
steckt Gudrun?
Ich kehre zu ihrem Haus zurück und läute Sturm. Der Glockenton
schrillt mir noch lange in den Ohren. Außer einer aufgescheuchten Katze rührt
sich auf diesem Hof immer noch nichts. Ich gehe um das am Hang gelegene Haus
herum, das auf der Rückseite zweistöckig ausgebaut ist.
Das Stallgebäude ist genauso verlassen wie das meines Bruders, sieht
aber im Gegensatz zu diesem nicht wie ein zerbombtes Relikt des Zweiten
Weltkrieges aus. Ein alter Traktor steht darin.
Ich pflücke eine reife Tomate aus dem sehr gepflegten Gemüsegarten
und lutsche sie aus. Mir ist ziemlich schwummerig zumute, aber das liegt
garantiert nicht an meinem Hunger. Nach den Erfahrungen der vergangenen fünfzig
Stunden habe ich jetzt furchtbare Angst, dass Gudrun wirklich etwas zugestoßen
ist.
Drei Tage, drei Leichen, denke ich. Aus lauter Verzweiflung rufe ich
Marcel Langer an.
»Gudrun Arndt ist verschwunden!«, brülle ich ins Telefon.
»Wie, verschwunden?«
Ich sage, dass sie mich zum Essen eingeladen hat, der Hof aber wie ausgestorben daliege. Schon das Wort lässt mich erzittern.
»Dann ist ihr eben etwas dazwischengekommen.«
»Da hätte sie mir doch Bescheid gegeben.«
»Wie denn? Kennt sie Ihre Handynummer?«
»Nein«, erwidere ich.
»Und der Anschluss Ihres Bruders ist gesperrt. Ihr wird schon nichts
passiert sein. Es hat bisher noch nie einen Mord auf der Kehr gegeben. Regen
Sie sich ab, Frau Klein, gehen Sie nach Hause und kochen Sie sich etwas Schönes.
Ich habe Ihnen heute Morgen auch Steak, Kartoffeln und Quark gekauft.
Grillfleisch und Kartoffeln in Silberfolie mit Kräuterquark klingt doch ganz
verlockend, oder nicht?«
Was erdreistet er sich, mir kulinarische Vorschläge zu unterbreiten,
während ich um das Leben einer Frau bange, die wir beide kennen!
»Sie sollten herkommen und die Tür aufbrechen! Wenn Gudrun nun dort
in ihrem Blut liegt!«
»Dazu werde ich keine Genehmigung erhalten. Das ist Deutschland.
Außerdem gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Gudrun in Gefahr ist.«
»Keinen Grund?«, fauche ich, »es gab jedesmal einen Toten, wenn ich
in den vergangenen zwei Tagen das Haus verlassen habe!«
Erst als die Worte ausgesprochen sind, begreife ich, wie er sie
verstehen könnte. Die reinste Selbstbezichtigung! Mir bleibt nichts, als zum
Angriff überzugehen: »Wenn Gudrun heute Nacht schwer verletzt in ihrem Haus
stirbt, werde ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen!«
Wütend kappe ich die Verbindung.
Beamte! Fantasielose Bürokraten! Paragrafenreiter! Die Belgier sind
keinen
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