Einmal auf der Welt. Und dann so
Ernsteres.
»Um einen organischen Befund ausschließen zu können«, wie er sagte, bat er, sagte er, ich solle mich jetzt doch freimachen. Freimachen! Was für ein Wort! »Alles, bitte!« Sagte er. Gut, nichts einfacher als dies, und ich machte mich frei. Ich sah nicht, was er sah, von mir und meinen neunzehn Jahren, denn das meiste von mir - oder wenigstes das Wichtigste, mein Gesicht, zum Beispiel - konnte ich immer nur im Spiegel sehen, ich sah nur, wie er mich sah, und dann sein Runzeln der Stirn, seine Augen:
»Was ist das? - Hatten Sie das immer schon so?«, und ich sagte »ja«.
Er meinte mein Muttermal, das wohl komisch aussah.
Und dann kam alles heraus, wie nebenbei.
Ich sah es ja nie richtig, nicht einmal im Spiegel, das Muttermal, an der Schulter links oben, ich musste schon schielen, selbst im Spiegeltriptychon des elterlichen Schlafzimmers, lange dem einzigen Ort auf der Welt, wo ich mich von allen Seiten betrachten konnte. Im Spiegel bei meiner Friseuse Helga sah ich in jenen Jahren ja immer nur, wie ich erröten konnte.
»Das gefällt mir nicht!«, sagte er nun mit jener definitiven Gewissheit eines Menschen, der im Indikativ spricht, und ich dachte sogleich an meinen Tod und malte mir aus, wer alles auf dem Friedhof stehen würde, nebeneinander blühende und verreckte Gesichter, wie gerade bei Lisi und bei Fritz.
Da Dr. Schwellinger mein Muttermal immer weniger gefiel, rief er nun gleich bei seiner Kollegin, Frau Dr. Methfessel, an. Ich bekam, da es wohl sehr dringend war in den Augen meines Arztes, schon einen Termin für den folgenden Tag, den Freitag, der in meinem Leben von allen Tagen die Hauptrolle spielte. Andere, wie Padre Pio und Resi von Konnersreuth, aber auch schon Anna Katharina Emmerich, die Clemens Brentano, dem Dichter von Ich sing und kann nicht weinen ihre Visionen diktierte, bekamen sogar um 15 Uhr ihre Wundmale. Ich wurde an einem solchen Tag geboren und werde vielleicht auch sterben. Ja - ich vergaß zu sagen, was auf unserer Glocke stand, einst vor 150 Jahren, gestiftet von den drei Stämmen des Schwanzclans, der auch seine Theologen und Lateiner hatte, was da stand auf der Schwanzglocke, in diesen alten Turm hinaufgehievt.
Für so bedeutend hielten sie sich, dass sie glaubten, sich ein Denkmal im Viertelstundentakt errichten zu müssen, dass selbst ihre Vergänglichkeit mehr wäre als die der anderen im Himmelreich. Dachten sie. Und auf alle schlug es jede Viertelstunde diesen Satz herunter: »Omnia vulnerant, ultima necat.« Und ich musste auch in diesem Fall bald den Übersetzer spielen, vielleicht so?
»All diese (Schläge und Stunden) verwunden, (nur) die letzte macht tot.«
Das lässt sich leider nicht mehr reimen.
Dann aber war die Zeit, die Stunde bei Dr. Schwellinger doch vorbei, ich würde nun fast 24 Stunden mit Todesphantasien bestreiten, und im Wartezimmer saßen wohl noch andere ängstliche Gesichter, ja Seelen, deren Körper sich, wie auch ich, ins Wartezimmer von Dr. Schwellinger geschlichen hatten.
Er ließ mich nicht gehen ohne ein paar beschwichtigende Bemerkungen, in denen die Wörter »ausschließen« und »gutartig« vorkamen. Aber am Telefon hatte er doch »malignes Karzinom« gesagt, als hätte ich das nicht verstanden!
Das erste Mal seit dem Tod von Caro und Gigi und Frederic kam nun wieder der tatsächliche Tod, mit dem ich seither nur gespielt hatte, ins Spiel.
Ach, Dr. Schwellinger konnte ja zunächst keinen »ursächlichen Zusammenhang« erkennen. Ich bekam von ihm noch ein Beruhigungsmittel, »ein ganz leichtes Mittel auf natürlicher Basis«, wegen des Muttermals, und außerdem ein Juckpulver und eine Packung Jakutin aus dem Vertreterschränkchen und außerdem, ebenfalls wegen des Muttermals, der Mensch konnte ja mehrere Krankheiten auf einmal haben, eine Überweisung an Frau Dr. Methfessel, »um alle Eventualitäten auszuschließen«.
Der Besuch bei einem Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten war bei uns im Fleckviehgau so peinlich wie das Aufsuchen eines Psychiaters, der einem Menschen, der nicht mehr weiterwusste, weiterhelfen sollte, doch das blieb, dass es wehtat.
Das Jucken war vorerst allerdings wie weggeblasen. »Das macht dann auch Frau Dr. Methfessel, wenn da etwas ist.«
Sylviya Methfessel stammte aus Transsylvanien, in Überlingen war sie wegen ihrer Schönheit berühmt über Überlingen hinaus. Sie war Fachärztin für Haut- und Venerische Leiden.
Gott hatte jedes Haar auf meinem Kopf gezählt, das wusste
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