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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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was ich wirklich hatte, seit jenem Augenblick, als ich in jenem Bauch das Wort »wegmachen« hörte und zum ersten Mal Todesangst bekam und einen Mordsappetit auf das Leben.
    Und im Tiefkühlfach hatten wir immer portionsgerecht geschnittene Teile von Lebewesen, die glückliche Kühe und Schweine gewesen waren, Vegetarier oder Allesfresser, die mit uns gelebt hatten, von denen die Menschen, die wir waren, leben mussten. Vielleicht glaubten wir es auch nur, dass es nicht anders ging.
    Ich zitterte nur, wurde blass und konnte meine Hände sehen, die so feucht waren, dass ich mich fast in ihnen spiegelte, als das Licht darauffiel, wie auf eine Straßenpfütze, wie in einer Wasserlache konnte ich mich sehen. Das war mein Fokus. Es war fast Aquaplaning.
    Es gab Menschen, die verzichteten auf jede Tablette und nahmen jeden Schmerz in Kauf, ließen sich niemals betäuben aus Angst, sie könnten nicht mehr aufwachen, so sehr lebten sie und und liebten sie das Leben. Und ich?
    Wie damals beim Zahnarzt, der schon mit der Zange auf mich zukam, hoffte ich nur, dass der Himmel aus irgendeinem Grund einschreiten werde, mein Schutzengel, und dem Zahnarzt eingeben, den Eingriff auf später zu verschieben, auf später, nur nicht heute, so saß und lebte ich und konnte den Mund nicht öffnen. Beim Zahnarzt war es die friedliche Landschaft an der Decke über dem Behandlungs- oder Folterstuhl, gegen die ich starrte, es war damals eine Fototapete, es waren die Malediven, die mir seither auch verdorben sind, und bei Frau Methfessel war es das Diplom der Universität Temeswar hinter ihrem Schreibtisch, das ich erblickte, was meine Zuversicht auch nicht gerade steigerte, als wäre ich in einer Maschine der Aeroflot gelandet oder mit Alitalia in der Luft, und auf dem Tisch waren es zwei gerahmte Fotos, vielleicht von Absturzopfern, sei es im Leben, sei es in einem gewöhnlichen Flugzeug, Fotografien von Menschen, die wissend schauten, die anscheinend wussten, wie es ausging, welche mich in dieser Situation zusätzlich quälten.
    Ich habe Familienfotos auf den Schreibtischen wichtiger Personen nie leiden können. Das eine zeigte wohl ihren Mann Helmar Johannes in seinen besten Zeiten, als er noch mit Erdöl handelte, wie ich aus der Zeitung wusste, eine blondlockige Erscheinung, von der, da mit einer unübersehbar fatalen Ähnlichkeit zu unserem Philosophen ausgestattet, das Gerücht ging, er sei am 55. Geburtstag von Heidegger auf Burg Wildenstein gezeugt worden, und zwar von demselben zusammen mit der Schwiegermutter von Frau Dr. Methfessel, die zu jenem Zeitpunkt eine bildschöne junge Zahnärztin war, deren kriegsversehrter, aber schon vorher tatenloser Mann der liebeshungrigen Frau wenig bieten konnte. (Dabei war er aus Meßkirch wie er, mit jenem bekanntermaßen sehr überschaubaren Teilnehmerkreis am lebenslänglichen, immer wieder lebensverlängerndem Geschlechtsverkehr.) Tatsächlich wurde Helmar am 2. Mai 1945 im Lager Heuberg, vis-á-vis von Burg Wildenstein, geboren, ein paar Wochen zu früh, schon als Kriegsgefangener, und doch kam er davon, schon ein erstes Mal, und dann immer wieder, vielleicht weil er an der richtigen Stelle das sogenannte Licht der Welt erblickte, in einem Operationssaal, von der richtigen Frau, seiner Mutter, von den Franzosen im Lager Heuberg, das erst ein Tuberkuloseerholungsheim gewesen war, dann eines der ersten KZ, nach dem Krieg Internierungslager, und noch einmal später Truppenübungsplatz, zuletzt diente die Anlage als eine deutsch-französische Freundschaftskaserne, das war kurz die Geschichte dieses Ortes unweit von Stetten am kalten Markt, wo Frau Dr. Schweinfurth-Johannes, eingesperrt zusammen mit Schuldigen und Unschuldigen, als Übersetzerin und Zahnärztin ihre ersten zwei Jahre als Mutter verbrachte.
    Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass der kleine Helmar Johannes ein Leben lang dachte, dass das Leben eine Gefangenschaft sei, über die er sich nur mit den besten Frauen, Weinen und Zigarren hinwegtrösten konnte.
    Das andere Foto zeigte die Hautärztin, Frau Dr. Methfessel, mit Doktorhut zwischen Elena und Nicolae Ceausescu.
    Dieses Leben und diese Praxis waren ein Fest für Masochisten.
    Sie fuhr auf meinem Muttermal herum.
    Mittlerweile hatte ich mich wieder etwas gefangen, hätte, danach gefragt, wie es mir geht, »Es geht schon wieder!« sagen können.
    »Hat Ihnen niemand gesagt, dass sie auf dieses Muttermal aufpassen müssen?« »Doch«, sagte ich.
    »Immer wieder - Aber

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