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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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zum Psychiater!«, sagte ich mir. So stritten sich Gut und Böse in meinem Kopf, wie ich das von Pfarrer Strittmatter im Beichtunterricht gelernt hatte. So stritt ich mich mit mir selbst.
    Und nun, definitiv, Hinausschieben ging nicht mehr. Das war mir spätestens auf dem Rückweg von Lissabon klar, irgendwo auf der Meseta zwischen Bajadoz und Salamanca, zum Fenster hinausschauend, zu einer roten und verbrannten Erde hin, die auch ihre Geschichte hatte, und wir hatten kein Wasser mehr. Es juckte wahnsinnig, das blieb vorerst als Einziges, was ich vom ersten Mal hatte, von einer Interrailtour kreuz und quer durch Europa, es war in der Zeit von Oswald Kolle, und Filme wie Eros am Abgrund hatten wir schon mit 16 gesehen, alles gemeinsam, das halbe Dorf, gemeinsam fuhren wir im Mopedkonvoi zur Spätvorstellung ab 18, wo ich mich hineinmogelte und wir dann an uns herummogelten; und seither musste ich eigentlich nie mehr versuchen, älter auszusehen, als ich war.
    Woher dieses zweite, eigentliche Jucken kam, ob aus der Jugendherberge in Wien, Rom, Barcelona, Lissabon oder Amsterdam oder aus einem dieser Zugabteile, die mit etwas bezogen waren, das einmal Stoff gewesen sein musste, habe ich nie herausbekommen. Zum Glück wusste man damals noch nichts von Aids, sonst hätte ich mich gewiss in den Gedanken hineingesteigert, dass ich von einem dieser ungewaschenen Betten, in dem zuvor möglicherweise ein Infizierter gelegen hatte, diese tödliche Krankheit bekommen hätte.
     
    Ich ging zum Doktor.
    Ich war wegen allem zu Schwellinger gegangen, nur nicht wegen meines Muttermals.
    Doch selbst das verheimlichte ich. Und selbstverständlich verheimtlichte ich auch, dass es spätestens seit der schönen, abenteuerlichen Reise, von der sie zu Hause alles wissen wollten, auch noch an einer konkreten Stelle und ganz eigentlich, aber unbeschreiblich juckte.
    Als wäre es ein Ausflug, fuhr ich schon mit meinem allerersten Auto, es war, wie hätte es damals anders sein können, ein Käfer, zu Doktor Schwellinger nach Überlingen und parkte weit weg, als hätte ich Angst, entdeckt zu werden, als wäre es ein Swingerclub. In diesem Satz steckte noch ein Denkfehler von mir, denn jene Leute, die in den Swingerclub gingen, taten dies bald gar nicht mehr heimlich, und sie brüsteten sich von Anfang an damit.
    Doktor Schwellinger war ein mittelalterlicher Mensch, vielleicht hatte er noch eine Geliebte, weiß nicht. Sah so aus, als hätte er schon abgedankt; und zwar gerade auf diesem Feld, Feld des Lebens, dessentwegen ich mich überhaupt zu ihm begeben hatte. Ich wusste eigentlich nichts von ihm, ich wusste nur, dass an jenem Haus, an dem ich manches Mal vorbeigegangen war, um nebenan im Eiscafe Dolomiti ein Eis zu holen, das Fanalwort »Facharzt für Psychiatrie« stand, was für mich früh auf einen Abgrund deutete, auf ein Leben am Abgrund, auf ein Leben, das gar kein Leben war, auf diesen oder jenen Menschen von uns, die ich Vorbeigehen gesehen hatte und die sich im Laufe meines Kinderlebens aufgehängt, vergiftet und erschossen hatten, wenn sie Jäger waren.
    Eigentlich war ich wegen all diesem »weggeddem« zu ihm gekommen.
    Das führte mich zu Dr. Schwellinger, das kam hinzu, zum Muttermal, welches das Vor-Zeichen meines Lebens bis dahin gewesen war, dieses irrsinnige, eigentliche und uneigentliche Jucken im Genitalbereich, wie das medizinisch hieß, wofür wir kein einziges schönes Wort hatten, weswegen ich mich aber nicht zu unserem guten Hausarzt traute, Dr. Erhart Biesele, den wir »Dr. Gschichten« nannten, auch, weil uns »Dr. Biesele«, dieser in unserer Sprache zweifelhafte Name, schwer über die Lippen kam und mehr noch vielleicht deswegen, weil er, noch ein Altösterreicher, alles, selbst das Unmögliche, selbst den Tod, mit »Das sind so Gschichten!« kommentierte. Mit meinem Jucken traute ich mich nicht zu Biesele, so wenig ich mich in dieser Sache zum Beichten (es musste ja auch noch alles gebeichtet werden, als wäre es so nicht genug gewesen) zu meinem guten Pfarrer Strittmatter traute. Immer wenn ich etwas hatte, immer wenn mir etwas fehlte, was mich erröten ließ, ging ich nicht zu Strittmatter und nicht zu Biesele, sondern zu einem fremden Arzt, Beichtvater und Menschen.
    Für »Maul- und Klauenseuche« hätte ich ebenso gut »Muttermal« sagen können, unser »Muttermal«.
    Und außerdem standen da nun auch noch überall Mengele-Landmaschinen mitten in den Feldern unserer unaussprechlichen Erinnerung.
    Pfarrer

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