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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Strittmatter hatte immer von unserer Erbsünde gesprochen. Er hätte es von da nicht durchgehen lassen, Gott ins Handwerk zu pfuschen, und sagte, ich solle dieses Muttermal als Kreuz tragen. Die plastische Chirurgie wie die Schönheitschirurgie sah Strittmatter als Teufelszeug wie Honecker den Kapitalismus.
    Pfarrer Strittmatter hätte ich dieselbe Geschichte nur höchst vage gebeichtet (»Ich war unkeusch im Tun mit Personen des anderen Geschlechts.«).
    Auch wegen unserer Maul- und Klauenseuche hatte ich mich schließlich zu Dr. Schwellinger aufgemacht, der ja beides war: Internist und Psychiater, der es also wissen musste, ja, der mir helfen konnte bei meiner, ja unserer Maul- und Klauenseuche. Wegen dieser Krankheit, die eine konsumierende war und zwangsläufig zum Tode führte.
    Und dann noch - ich dachte dies eher beiläufig zu erwähnen -wegen eines, wie gesagt, unbeschreiblichen und auch gar nicht näher definierbaren irrsinnigen Juckreizes im Bereich der Partes Inhonestae, der allein schon ausgereicht hätte, aus mir einen Verrückten zu machen und mich zu Dr. Schwellinger zu treiben.
     
    Ich begann so: »Herr Doktor«, sagte ich, »kann ich mit Ihnen frei reden, kommt das auch nicht in meine Akten, was ich Ihnen nun auch noch erzählen muss, seit einer Reise nach Rom juckte es immer wieder unbeschreiblich in meinem unteren Bereich, besonders nachts ...
    o-o- ob Sie es glauben oder nicht...«
    So begann ich. - Wenn ich mich heute zu erinnern versuche: ich weiß nicht mehr, was er für ein Gesicht machte, ob es mehr nach Lachen aussah.
    »Was haben Sie sonst noch für Symptome?« Ich hatte gar keine typischen oder einschlägigen Symptome der damals bekannten Geschlechtskrankheiten, wie sie genannt wurden von den Medizinern, die sich Definitionshoheit über den Menschen und seine Krankheiten verschafft hatten (das schauderhafte Wort selbst kam freilich nicht aus meinem Mund), sodass er wohl gleich, ohne mich näher zu inspizieren, auf einen wahnhaften Zusammenhang tippte, was er freilich nicht sagte, sondern nur notierte »Verdacht auf ...« Er hatte ja recht, doch was glaubte er denn, wer ich war! Glaubte er denn, ich könnte nicht vorwärts und rückwärts lesen, Spiegelschriftliches und Seitenverkehrtes?
    Das Jucken war zweifellos ein realer und doch ein Phantomschmerz, der nichts mit meiner Reise zu tun hatte, es war wohl, so vermute ich heute, das schlechte Gewissen, das mich noch mehr seit jener Nacht im heruntergekommenen Hotel Bristol in Lissabon quälte, welcher mehrere himmlisch irdische Nächte in den heruntergekommenen Hotels in Bahnhofsnähe der europäischen Metropolen sowie in den schmutzigsten Zugabteilen der europäischen Nachtzugverbindungen vorausgegangen waren. Denn meist schlief ich, schliefen wir ja, da es für ein sogenanntes Hotel gar nicht reichte, irgendwie selig in einem dieser Abteile, das heißt, wir schliefen gar nicht, sondern waren selig bei vollem Bewusstsein, sodass es Dr. Schwellinger, ein Mensch, dem ich zum ersten Mal überhaupt mein Herz öffnete, im Glauben, das wäre möglich, ich könnte und müsste ihm alles sagen, um richtig geheilt zu werden, schon irgendwie unangenehm war. Das war durch den Übermut eines ins Reden gekommenen Schüchternen, der ich war.
    Dr. Schwellinger aber schaute zum Fenster hinaus, wo die Schiffchen auf dem grauenhaft blauen See unterwegs waren; und auch langsam auf die Uhr schaute er, sehr diskret, aber ich sah es doch über die sichtbare Welt, die sich in einem der Fenster spiegelte, auf die ich sah, ja, selbst die Fenster waren mir zu Spiegeln geworden.
    Die Zeit war eigentlich abgelaufen, und draußen warteten bestimmt noch andere.
    Vielleicht hatte er doch gar nicht richtig zugehört.
    Aber Doktor Schwellinger war ein erdfester Medizinmann, ein Naturwissenschaftler und kein Spinner wie ich. Er war auch nicht einer von jenen, die Psychologie studierten, um sich besser verstehen, ja vielleicht sogar heilen zu können.
    Ich hatte ihm stockend von dem, was ich kaum über meine Lippen brachte, erzählt, von meinen Schmerzen, von meinem Jucken und von meiner Müdigkeit und meiner Unruhe, von meiner Verstimmtheit und meinen Wutausbrüchen und meiner Niedergeschlagenheit und meiner Schwermut, »seit Rom«, das waren die Hauptwörter, mit denen er vorerst nicht weitergekommen war. Und dabei blieb es.
    Trotzdem wollte der Psychiater, der auch Internist war, »Sie noch einmal ganz schnell anschauen«. - Warum dies? Vielleicht war es doch etwas

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