Einmal durch die Hölle und zurück
kenne keinen einzigen Salzwasserfisch, der das könnte.«
»Lachse scheinen damit keine Probleme zu haben.«
»Lachse wandern einmal im Leben vom Süß- zum Salzwasser. Das ist ziemlich einfach, weil sie bloß ihre Zellen so auffüllen müssen, dass sie für das Wasser osmotisch attraktiv bleiben. Wenn sie zurückwandern, werden sie vom Süßwasser vergiftet. Das ist der letzte evolutionäre Stressfaktor, bevor sie laichen und sterben. Jedenfalls haben Haie auch nur Schneidezähne. Wie Piranhas oder Komodowarane. Aber dieses Tier hier hatte hinten Schneide- und vorn spitze Zähne. Deshalb ist das Bissmuster vorn ganz faserig.«
»Mein Gott, gut, das zu hören.«
Violet sieht mich an. Fürs erste Mal hält sie sich ziemlich gut, doch sie sieht weinerlich und krank aus. »Wie meinst du das?«
»Ich kann Haie nicht ausstehen.«
»Lionel, egal, was für ein Tier das ist, es ist schlimmer.«
»Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich war es eine Bootsschraube.«
»Im Wagen hast du gesagt, eine Bootsschraube verursacht kurze, parallele Schnittwunden, die so weit auseinanderliegen, wie es der Länge der Schraube von vorne nach hinten entspricht. Und die Körperteile, die mit Haaren oder Kleidungsstücken bedeckt sind, werden zerfetzt.«
»Ja, in
Lehrbüchern
.«
Die beiden Toten auf den Fotos tragen keine Kleidung. Leichen auf Autopsiefotos sind nur selten bekleidet, doch in dem beiliegenden Bericht steht, dass sie bei der Bergung größtenteils nackt waren. Das Mädchen hatte seinen Badeanzug noch an. Ob sie langes Haar hatte, ist unklar, denn ihr Kopf ist nicht mehr da.
»Du verstehst nicht«, sagt Violet. »Ich erkenne dieses Bissmuster.«
Ich halte inne. »Wie meinst du das?«
»Dieses Bissmuster – es ist unverkennbar. Ich meine, ich bin keine Zoologin. Nicht mal als Paläontologin habe ich etwas mit Zoologie zu tun …«
»Du scheinst dich aber gut auszukennen.«
»Nichts für ungut, aber das liegt daran, dass du noch weniger über dieses Zeug weißt als ich. Ich bin nur ein Laie. Ich weiß nicht mal, wo mein Wissen lückenhaft ist.«
»Okay.«
»Aber diesen Biss kenne ich. Den kennt jeder Paläontologe, weil er so einzigartig ist, dass man damit das Ende der Kreidezeit kennzeichnet.«
»Und wann war das?«
»Das ist das verdammte Problem. Vor fünfundsechzig Millionen Jahren.«
Ich mache mir bewusst, dass ich dieser Frau eigentlich gerade Standfotos aus einem Snuff-Film gezeigt habe. Ich würde ihr ja die Hand auf die Schulter legen, aber solche Hände habe ich nicht.
»Violet …«
Sie zuckt zusammen. »Ich weiß. Ich bin Paläontologin. Die meisten Tiere, die ich gut kenne, sind zusammen mit den Dinosauriern ausgestorben.«
»Genau.«
»Aber nicht alle.«
So vorsichtig wie möglich sage ich: »Ich bezweifle stark, dass es ein Dinosaurier ist.«
»Bis 1938 hat man gedacht, die Quastenflosser wären seit der Kreidezeit ausgestorben. Dann tauchten sie plötzlich wieder auf.«
»Aber wir haben nicht denselben Lebensraum wie die Quastenflosser. Dass sie noch da sind, wissen wir bloß, weil wir anfingen, ihre Laichplätze mit Schleppnetzen zu durchkämmen. Doch auch dann haben die meisten Leute, die einen Quastenflosser gesehen haben, wahrscheinlich gedacht, es handelte sich um einen Fisch, und ihn gleich wieder vergessen. Wir reden hier von einem Tier, das angeblich wie ein Dinosaurier aussieht und sich in einem Nationalpark rumtreibt. Und Menschen frisst. Wo war es die ganze Zeit? Eingefroren?«
Sie antwortet nicht.
»Was ist?«, frage ich.
»Das könnte durchaus sein.«
»Ausgeschlossen.«
»Doch. Ich mag keine Zoologin sein, aber ich weiß, dass es Frösche gibt, die vollständig gefrieren können.«
»Wie soll das gehen? Ihre Zellen würden doch platzen.«
»Sie überschwemmen ihre Zellen mit einer ultrahohen Glukosedosis und kühlen sich dann runter. Keine Stoffwechselaktivität. Bis sie wieder aufwachen, sind sie bloß Proteine in einem Eisblock.«
»Und so können sie bleiben? Fünfundsechzig Millionen Jahre lang?«
»Nein, nicht fünfundsechzig Millionen Jahre lang. Die ungeordnete Bildung von Kristallkeimen würde die Zellen in so einem Zeitraum zum Platzen bringen, und es käme zu molekularem Zerfall. Aber dieses Tier muss gar nicht fünfundsechzig Millionen Jahre lang eingefroren gewesen sein. Was, wenn es bloß die letzten paar Jahrhunderte ausgeharrt hat? Das würde erklären, warum es eine Zeichnung von ihm gibt. Und seit damals hat es jede Menge Verhaltensänderungen
Weitere Kostenlose Bücher