Einmal durch die Hölle und zurück
ich nicht kenne, doch wahrscheinlich war es zinkverzögertes Schweineinsulin. Beim Durchblättern der Akte stelle ich fest, dass ihn McQuillen während der normalen Kämpfe und Krisen, die bei der Behandlung zuckerkranker Jugendlicher auftreten, ziemlich stabil gehalten hat.
Doch nach einer Weile kooperiert Brisson nicht mehr. Will unbedingt beweisen, dass noch mehr Scheiße über ihn hereinbrechen kann. Besonders unter seiner tätigen Mithilfe.
Das Ganze hat was von einem nicht besonders komischen Daumenkino. Mit Anfang zwanzig Autounfall unter Alkohol. Mit Ende zwanzig vom Trinken erhöhte Leberenzyme. Die ganze Zeit schlechte Zuckerkontrolle. Schon mit Mitte vierzig Beinamputation wegen Diabetesgangrän. Fünf Jahre später beginnendes Korsakow-Syndrom.
Scheiße, daran hätte ich vorher denken sollen. Beim Korsakow-Syndrom erfinden Menschen, deren Erinnerungen durch Thiaminmangel zerstört wurden – in Industrieländern gewöhnlich auf alkoholismusbedingte Unterernährung zurückzuführen –, unbewusst in Echtzeit neue Erinnerungen. Schon wenn man gegenüber jemandem mit Korsakow-Syndrom andeutet, dass etwas passiert sein
könnte
, ist es gut möglich, dass er sich plötzlich daran erinnert und die näheren Einzelheiten erzählt. Das hätte ich als Erstes in Betracht ziehen müssen.
Ich lege die Krankenakte zurück. Nehme mir die von Autumn Semmel und Benjy Schneke vor.
Die von Autumn umfasst zwei Seiten, auf denen es um eine Verstauchung des Knöchels vor vier Jahren geht. Anscheinend war McQuillen nicht ihr Hausarzt, was angesichts der Tatsache, dass sie in Ely wohnte, einen Sinn ergibt.
Benjys Akte beginnt mit seiner Geburtsurkunde vor achtzehn Jahren und endet mit einem Eintrag vor zwei Jahren, der bloß » TMBU « lautet. [50] Die Geburtsurkunde und auch der abschließende Eintrag sind in McQuillens unverwechselbarer, zittriger Handschrift unterzeichnet.
An die Rückseite von Benjys Akte ist ein brauner Umschlag geheftet, der McQuillen von der Kriminalpolizei in Bemidji zugeschickt wurde. Noch verschlossen.
Ich überlege, wie ich ihn öffnen kann, ohne dass es irgendwann auffällt, reiße ihn letztlich aber einfach auf.
Als ich wieder ins vordere Zimmer komme, steht Violet in der Tür und beugt sich vor, um ins Haus zu blicken, ohne über die Schwelle treten zu müssen. »Ist er da?«, fragt sie.
»Nein.«
»Und du bist trotzdem reingegangen?«
Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe die Treppe runter. Ich will nicht mehr hier sein. Dass McQuillen zurückkommen könnte, weil er irgendwas vergessen hat, ist dabei meine geringste Sorge.
»Die Tür war nicht abgeschlossen«, sage ich. »Ich hab mir Sorgen um ihn gemacht.«
Wahr und doch falsch: Das ist nicht bloß ein Spiel. Das ist eine Geisteshaltung.
»Ist das nicht trotzdem Einbruch?«
»Nicht, wenn man nichts aufbricht.«
»Und bist du sicher, dass er nicht da ist?«
»Ich habe mich umgeschaut. Vielleicht hab ich die Uhrzeit falsch verstanden.«
Als ich den Wagen aufschließe, sieht sie den Umschlag in meiner Hand. »Und du hast was
gestohlen
?«
»Nur das hier. Das wird er gar nicht merken. Er hat den Umschlag nicht mal geöffnet.«
»Was ist das?«
»Das sag ich dir unterwegs.«
»Du kannst es mir nicht jetzt sagen? Du machst mir Angst.«
Ich mustere sie. Frage mich, ob sie mir die ganzen Lügen wirklich abgekauft hat oder bloß so höflich war, mich nicht zur Rede zu stellen.
»Das sind die Autopsiefotos von Autumn Semmel und Benjy Schneke.«
»Was?«
»Ja.«
Sie erbleicht. »Wie sehen sie aus?«
»Hätte McQuillen sie sich wirklich angesehen, wäre er sich jedenfalls nicht mehr so sicher, dass die beiden durch eine Bootsschraube ums Leben gekommen sind.«
18 Camp Fawn See Ford, Minnesota
Immer noch Samstag, 15 . September
»Können das Haibisse sein?«
»Nein«, sagt Violet. Den Kopf in die Hände gestützt und den Rücken an mein Bett gelehnt, sitzt sie auf dem Boden. Hinter ihr sind die Schwarzweißfotos in zwei grauenhaften Reihen auf der Matratze ausgelegt.
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Und warum?«
»Aus mehreren Gründen.«
Ich weiß nicht, was beschämender ist, die Angst oder die Erleichterung.
»Zunächst einmal sind sie glockenförmig«, sagt Violet, »wie bei einem Tier mit flaschenförmiger Schnauze, und soweit ich weiß, gibt es das nicht bei Haien. Und ich habe noch nie von einem Hai gehört, der eine so hohe Stoffwechselaktivität hat, dass er in Süßwasser jemanden angreifen kann. Ich
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