Einmal durch die Hölle und zurück
Aber das
weiße Volk
, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen, huldigt romantischen Vorstellungen darüber, wie die Überlebenden sich danach durchgeschlagen haben. Als hätten die Menschen der ersten Völker als von Kriegshäuptlingen regierte Nomaden in den Wäldern leben
wollen
. Das lag uns fern. Die Weißen haben uns dazu gezwungen. Für uns war das finsteres Mittelalter. Aber ihr redet lieber von Schamanen und Seelenführern und der Würde des einfachen Lebens. Klar war dieses Leben einfach – es war postapokalyptisch.« Per Themenwechsel oder so was sagt er: »Wussten Sie, das Hitler ein Porträtbild von Geronimo in seinem Bunker hatte?«
»Nein«, sagt Violet.
»Hitler liebte die ersten Völker. Und wissen Sie, was die Menschen der ersten Völker von Hitler hielten? Sie sind in die
U. S. Army
eingetreten, um gegen ihn zu kämpfen. Und sie waren nicht gerade Freunde der U. S. Army. Aber das interessierte Hitler nicht. Er hat uns trotzdem geliebt. Und noch was. Er hatte Syphilis. Echt. Das können Sie nachschlagen. Der hatte Syphilis, und dafür hat er die Juden verantwortlich gemacht. Ein ganzes Kapitel in
Mein Kampf
heißt ›Syphilis‹.«
»Ich habe
Mein Kampf
gelesen«, sage ich und merke erst, als es raus ist, wie sich das anhört.
»Wissen Sie, wo die Syphilis herkommt?«, fragt Burton. »Eben. Aus der Neuen Welt. Genau wie die Kartoffeln. Wie Mais und Tomaten. Aber hat Hitler uns deshalb gehasst? Nein. Denn dazu hätte er sich die Fakten über uns ansehen müssen. Und das wollte er nicht. Er hat uns
geliebt
, aber er wollte uns nicht
wahrnehmen
.
Und jetzt kommt ihr daher und fragt nach den Wendigowak. Dabei habt ihr einen Doktor, Mann. Aber fragt ihr nach Bildungsprogrammen? Fragt ihr nach der Diabetesrate und ob
dagegen
was unternommen wird? Habt ihr eine Ahnung, wie viele Menschen hier zur Dialyse müssen? Wenn ihr wollt, zeige ich euch das Zentrum. Da hängen
Teenager
ab, weil sie, wenn noch nicht jetzt, dann doch irgendwann dahin müssen. Wir zeigen da Spielfilme. Wir haben Netflix. Freundliche Damen helfen den Leuten dort bei der Steuer. Wer für den Stammesrat kandidiert, geht im Dialysezentrum auf Stimmenfang. Wenn jeder vierte
Weiße
Diabetes hätte,
gäbe
es keine Diabetes mehr.«
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie behelligt haben«, sagt Violet.
»Geschenkt«, sagt Burton. »Es genügt, wenn Sie aufgeschlossen sind. Sie möchten wissen, was ein Wendigo ist?«
Wir nicken.
»Ein Wendigo ist was, wovon man Kindern erzählt. Kindern und Weißen. Es ist einer, der im Winter Hunger leidet und deshalb seine Familie auffrisst. Zur Strafe dafür muss sein Geist für immer bleiben, wo er ist. Und Hunger leiden. Immer Leute jagen, damit er sie fressen kann, aber er ist so schwach, dass er sie dazu ertränken muss. Seht ihr, worauf das rausläuft? Der übliche
Road Warrior
-Scheiß. Ein Volk hat solche Angst, Hungers zu sterben, dass es seine Kinder ermahnen muss, sich nicht gegenseitig zu essen. Das ist die ganze Wendigo-Geschichte:
Fresst euch nicht gegenseitig
. Wie schlimm es auch kommt, bleibt menschlich. Die Europäer hören da genau das Gegenteil heraus: Die ersten Völker sind zauberkräftig und verstehen mit Bigfoot zu reden. Aber wenn es Bigfoot wirklich gab, wird er vor langer Zeit an den Pocken gestorben sein.
Der White Lake ist gefährlich. Wo junge Leute feiern, ist es immer gefährlich, erst recht bei weißen jungen Leuten. Schiebt’s nicht auf uns, wenn da was abgeht.«
Im Wagen, wo am Ende einer ungeteerten Abzweigung mit Blick auf einen See, dessen Namen wir nicht kennen, der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt, stürzt der ganze Tag auf uns ein. Violet weint. Ich bin für den Kack seit Jahren nicht empfänglich, sonst würde ich wahrscheinlich auch anfangen.
»Teng war so
nett
«, sagt sie.
»Ja.«
»Er war nett zu seinem Bruder.«
»Ja.«
»Und jetzt ist er
tot
? Und kein Mensch weiß, warum?«
Ich überlege, was ich außer »Ja« darauf sagen könnte, aber mir fällt nichts ein.
»Ich hab das Gefühl, ich werde verrückt.«
»Wirst du nicht«, sage ich. »Sonst werde ich es jedenfalls auch. Und eine Menge andere Leute. Wir haben immer noch eine ziemlich starke Droge im Körper.«
»Deswegen nicht. Wegen Teng. Und weil im White Lake etwas lebt. Das widerspricht allem, was ich weiß.«
»Geht mir auch so.«
»Ich weiß nicht mal, ob ich mich
hier
noch auf irgendwas verlassen kann.« Sie dreht mir ihr nasses Gesicht zu. Ich rieche ihre Tränen. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher