Einmal Paradies und zurück
man in diesem Land lange genug auf einem Fleck stehen bleibt«, hat Paul einmal zu mir gesagt, »dann kann man davon ausgehen, dass früher oder später jemand die Genehmigung kriegt, auf deinem Kopf einen Wohnblock zu bauen.« Das war in der Zeit, als das ganze Land eine einzige Baustelle war. Wenn man abends vergaß, den Gartenschuppen abzuschließen, musste man Angst haben, dass jemand bis zum Morgen einen Starbucks darin aufgemacht hatte. So hat Mum es mal ausgedrückt.
Nebenbei bemerkt sind Pauls Brüder allesamt genauso attraktiv, nett und bodenständig wie er, wenn auch leider verheiratet und glücklich mit einer stetig wachsenden Kinderschar im Westen von Irland. Als Paul und Kate sich nach stürmischem Verlieben verlobten, überprüfte ich natürlich alle Brüder auf ihre Verfügbarkeit. Nur falls einer davon sich für Fiona eignete – als Kupplerin muss man ja immer die Augen offenhalten. Fehlanzeige auf der ganzen Linie.
Außerdem sind die Brüder total in ihre großen Familien vernarrt und die Frauen anscheinend ständig schwanger. Als ich das letzte Mal nachgezählt habe, gab es ungefähr zwölf Nichten und Neffen, und ich glaube, Paul hat vier Patenkinder. Allem Anschein nach gehören sie zu den fruchtbarsten Familien in ganz Irland, und Kate nennt ihre Schwägerinnen gelegentlich etwas genervt »die Gebärmaschinen«.
Wie dem auch sein mag, sicher ist, dass sich Pauls Branche in letzter Zeit sehr verändert hat. Nachdem die Bauindustrie sich in den letzten Jahren vor Aufträgen kaum retten konnte, kam plötzlich der Einbruch. Die polnischen Arbeitskräfte, die den Bauboom am Laufen gehalten hatten, zogen, als die Arbeitsmöglichkeiten in Irland geringer wurden, zurück in ihr eigenes Land. Pauls Firma war zum Glück nicht allzu schwer betroffen, da er zu diesem Zeitpunkt sein Schäfchen praktisch schon im Trockenen hatte, aber für einen Workaholic wie ihn ist es schwer, nur ein oder zwei Projekte pro Jahr in der Pipeline zu haben, wo man ihm vor kurzem noch die Tür eingerannt hat und er sich die besten Angebote herauspicken konnte. So ist es auch leicht, seine Seite bei der Auseinandersetzung, die sich da gerade entwickelt, zu verstehen. Wir stecken in einer Rezession, Aufträge sind knapp, und er muss ein paar Tage zu seinen Brüdern nach Galway. Punkt.
Dann ist Kate an der Reihe, und ihr Gegenargument, das sie Paul durch die geschlossene Badezimmertür zuruft, lautet kurz zusammengefasst: Sie hat kein Problem damit, dass er in Galway Geschäftskontakte pflegt, aber kann er nicht danach wieder heimkommen? Muss er wirklich unbedingt eine Nacht zusätzlich wegbleiben, nur damit er mit seiner Band proben kann?
Das wäre übrigens der private und vergnügliche Aspekt der Reise. Die Band (vier Mitglieder, Paul an der Lead-Gitarre) ist ein wichtiger Teil von Pauls Leben, und sie ist auch gar nicht schlecht, auf traditionelle, balladenlastige Art, viele Coverversionen von Beatles-Klassikern, alles sehr eingängig und rein zum Spaß, ohne Bezahlung. Die Zuhörer zeigen ihre Anerkennung, indem sie den Musikern die Getränke für den Abend spendieren. Und brüllen: »Kommt schon, Jungs, ihr könnt doch bestimmt auch was von den Dubliners!« Neben Paul machen noch sein Bruder Sean am Bass, sein Cousin Tommy als Drummer und ein Mädchen aus der Gegend als Sängerin mit. Julie – so heißt sie – klingt wie eine etwas jüngere Dusty Springfield, und obwohl man ihr eine große Zukunft vorhergesagt hat (es gab sogar das Gerücht, dass der Manager von Westlife und Boyzone an ihr interessiert sei), scheint sie jetzt absolut zufrieden damit zu sein, abends in der Band zu singen und tagsüber in der Apotheke ihres Vaters zu arbeiten. Alle haben einen Mordsspaß an der Musik, und Paul fährt oft nach Galway, nur um an neuen Songs zu arbeiten oder bei Geburtstagen oder Hochzeiten und Ähnlichem aufzutreten.
Aber zurück zu dem Streit, wo Kate jetzt vorbringt, dass Mum und sie nach meinem Unfall eine schwere Zeit durchmachen und dass sie Paul hier bei sich zu Hause braucht und nicht möchte, dass er in irgendeinem Pub rumsitzt und zum zweihundertsten Mal »Yesterday« schrammelt.
Ich vergesse das immer wieder. Wahrscheinlich habe ich in den letzten Tagen wesentlich mehr Zeit mit Mum und Kate verbracht als sonst, daher muss ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie keine Ahnung haben, wie gut es mir geht. Besser denn je. Und ich bin bei ihnen. Und warte nur auf eine Gelegenheit, kleine Wunder zu
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