Einmal scheint die Sonne wieder
Nachbar und sehr stattlich, doch Gammy verzieh ihm niemals. „Ein richtiges Schwein,“ murmelte sie, wenn sie ihn morgens vorbeifahren sah; und: „Zehn Eier,“ wenn er ihr dann vergnügt zu winkte.
Da Gammy immer so sehr gegen „starke Esser“ mit „ihren gierigen Augen“ war, glaubte ich, daß sie begeistert sein würde, wenn ich eine Entfettungsdiät machte, und ich glaube, sie wäre es auch gewesen, wenn nicht alle diese Diäten so viele Eier vorgeschrieben hätten. „Ei – n Ei jeden Morgen zum Frühstück?“ las sie fassungslos in der „Wunderkur in zwanzig Tagen“ – „Und mittags noch ein Ei?“ Sie war entsetzt. „Laß das sein Betsy,“ meinte sie und schob ihre Brille auf die Stirn hoch. „Das ist bloß eine Marotte, die sich eine dumme Person ausgedacht hat, und es endet bestimmt mit Schwindsucht!“
Das tat es auch, aber noch viele, viele Jahre nicht und nicht durch Abmagerungskuren, kalte Bäder oder Mogeln beim Krocket. Bei den Eiern bin ich mir nicht ganz sicher.
ZWEITES KAPITEL
„Ich hab einen kleinen Schatten“ –
Wer hat ihn nicht?
Ich hab einen kleinen Schatten, der geht mit mir aus und ein.
Wozu er aber gut sein soll, das seh ich nicht recht ein.
Robert Louis Stevenson
Außer einer blühenden Gesundheit hatte meine Familie eine starke Fähigkeit, vergnügt zu sein. Wir konnten vergnügt sein, wenn wir Gammys Schlangenfraß aßen oder Mutters köstliche Gerichte; trotz kalter Bäder und Gesundheitsprogramme; mit Gammys schlimmen Prophezeiungen über die Zukunft, die vor uns lag; in Privat- und staatlichen Schulen; in sehr großen oder mittelgroßen Häusern; mit langweiligen Petern oder lustigen Freunden; mit oder ohne Geld; wenn wir es warm hatten, weil wir im Ofen Bücher verbrannten (meist große, dicke Sammelbände mit Predigten, die uns eins der vielen verstorbenen religiösen Mitglieder der Familie hinterlassen hatte) oder Anthrazit; wenn wir verliebt waren oder gerade abgehängt; mit oder ohne Stellung; wenn wir uns anständig benahmen oder schuftig; dick oder dünn; jung oder alt; in der Stadt oder auf dem Lande; mit oder ohne Licht; mit oder ohne Ehemänner.
Diese Freude am Leben unter allen Umständen kam von Mutter her, und sie hat uns zeitig beigebracht, die „Wehleider“ (die sich selbst bemitleiden) zu verachten und aus allem das Beste zu machen. Wie sie das fertigbrachte, wo sie doch ständig Gammy bei sich hatte, die eifrig aus allem das Schlechteste machte, geht über mein Begriffsvermögen. Vielleicht war es so, daß Mutter genau wußte, wir würden – da ja für Kinder das ganze Leben aus Drohungen der einen oder anderen Art besteht: „Wart nur, bis Vati nach Haus kommt!“ – „Tritt in ein Loch und brich dir das Genick!“ – „Iß noch ein Stück Kuchen, und du platzt!“ – Gammys düstere Prophezeiungen nicht sehr ernst nehmen, was wir auch nicht taten.
Als ich schließlich Tuberkulose bekam und damit das Ziel erreichte, das mir Gammy so früh im Leben gesteckt hatte, waren wir in einem mit braunen Schindeln gedeckten Haus im Universitätsviertel von Seattle in Washington alle zusammen sehr vergnügt und machten aus allem das Beste. Mary und Cleve waren verheiratet, und Gammy war schon ein paar Jahre tot, so daß „wir“ damals soviel hieß wie Mutter, ich, meine zehn- und neunjährigen Töchter Anne und Joan, meine jüngeren Schwestern Dede und Alison, eine angenommene Schwester Madge und wen wir sonst noch innerhalb der berstenden Mauern zusammenstopfen konnten.
In den sieben Jahren, die Anne, Joan und ich in Seattle gelebt hatten, waren Leute aus Alaska gekommen, mit kurzgehaltenen Einführungsschreiben von Cleve, der mal eine Reise dahin gemacht hatte. Alte Freunde von Vater, aus dem Bergbau, waren aufgetaucht und Monate geblieben. Manch einer war für eine Nacht gekommen und hatte sich für Wochen niedergelassen. Ein Mädchen kam für ein Wochenende und blieb fünf Jahre.
Madge wurde uns eines Sonntags abends mit ungefähr vierzig anderen Leuten ins Haus gebracht und als die Freundin von irgend jemandes Zimmergefährtin vorgestellt. Sie spielte Klavier, wir fanden sofort, daß sie zu uns gehörte, und eine Woche später zog sie ein und wurde auf immer als Familienmitglied adoptiert. Da sie keine eigene Familie hatte, war Mary sehr dankbar für unsere Liebe und Freundschaft, noch dankbarer aber dafür, daß keiner von uns stocktaub oder besonders ordentlich war und wir alle morgens schlechte Laune hatten und gewöhnlich noch
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