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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Gespräch zu führen. Dass etwas in seinem Schädel nicht so funktionierte wie sonst. Berglunds Frage war berechtigt, zweifellos. Warum saß er hier und redete mit diesem abtrünnig gewordenen Pfarrer, der gerade seine Ehefrau verloren hatte?
Eigentlich.
    Aber eigentlich war ein verräterisches Wort, das hatte er schon oft gedacht. Es deutete darauf hin, dass tatsächlich etwas dahinter verborgen war, dass es eine Art Fokus gab, der behauptete, sehr viel wesentlicher zu sein.
    Was gar nicht immer der Fall war, wie sehr man sich das auch einbildete.
    »Es gibt so viele Fragen ohne Antworten«, sagte Rickard Berglund schließlich. »So viele Zusammenhänge, die wir nie entdecken. Ich meine mich zu erinnern, dass Sie das letzte Mal gesagt haben, Sie hätten einen Glauben, oder irre ich mich da?«
    Für den Bruchteil einer Sekunde sah Barbarotti den Herrgott, wie er ihn mit einer auffordernden Falte auf der Stirn betrachtete.
    »Das stimmt«, sagte er. »Ich habe einen Glauben. Das heißt, ich bin der Meinung, dass es einen Gott gibt. Und ich habe eine Beziehung zu ihm. Aber ich glaube nicht, dass ich in konventioneller Weise religiös bin.«
    »Das freut mich zu hören«, sagte Rickard Berglund und verzog kurz den Mund. »Ja, Sie wissen ja, dass ich meine Berufung vor ein paar Jahren aufgegeben habe. Aber meinen Glauben, den habe ich nicht verloren, darüber haben wir doch auch gesprochen, nicht wahr? Sie müssen entschuldigen, aber ich war in letzter Zeit so müde. Mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Ich habe eigentlich seit mehreren Monaten nicht mehr richtig geschlafen … erst jetzt wieder, nachdem sie endlich ihre Ruhe gefunden hatte. Ja, seit ein paar Tagen gibt es da tatsächlich einen Unterschied. Ich habe auch eine Art Ruhe gefunden.«
    Barbarotti dachte nach. »Am Montag habe ich nicht gewusst, ob meine Frau leben oder sterben wird«, sagte er.
    Berglund nickte. »Erst im Spiegel des Todes lässt sich das Leben richtig erfassen«, konstatierte er. »Erst dann können wir es wirklich wertschätzen und die Spreu vom Weizen trennen. Ich hoffe, das klingt nicht zu anmaßend. Ich möchte nicht anmaßend klingen, das habe ich lange genug, ja viel zu lange getan, als ich in der Kirche stand und gepredigt habe.«
    Er lachte auf, kurz und trocken, und Barbarotti merkte, dass auch er lachen musste.
    »Es gibt viel, das anmaßend erscheint«, sagte er. »Und viel, was wir niemals durchschauen. So kümmern wir uns beispielsweise um diese sonderbaren Todesfälle, aber ich bin mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass wir nie wirklich die Antwort finden werden. Wie und warum sie starben, meine ich. Oder was glauben Sie?«
    Rickard Berglund lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel.
    »Soll man nach dem Glück oder nach dem Sinn suchen?«, fragte er. »Das ist eine Frage, die mich die Jahre hindurch verfolgt hat. Sollen wir wirklich danach streben, alles zu verstehen? Wozu ist das gut? Vielleicht wird das Wissen, nach dem wir streben, uns nur schaden, wenn wir es endlich erlangt haben? Wie sieht Ihr Gottesbild aus? Welche Eigenschaften hat Ihr Gott?«
    Plötzlich fragte Barbarotti sich, ob der Mann ihm gegenüber eigentlich ganz gescheit im Kopf war. Er war zwar deutlich konzentrierter als bei ihrem letzten Gespräch, aber diese letzten Äußerungen von ihm waren, mit Verlaub gesagt, etwas eigenartig. Oder lag es nur an ihm, versuchte er sich vor irgendetwas zu schützen?
    »Mein Gottesbild?«, fragte er, nachdem er einen halben Mandelkeks gegessen und mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte. »Ja, ich bin mir eigentlich nur in drei Punkten sicher. Er ist ein Gentleman, er hat Humor, und er ist nicht allmächtig.«
    Rickard Berglund lachte wieder, kurz und heiser. »Sind Sie allein zu dieser Erkenntnis gekommen?«, fragte er. »Durch persönliche Erfahrung, meine ich?«
    »Wie sonst?«, erwiderte Barbarotti.
    »Gut«, sagte Rickard Berglund. »Sehr gut. Es gibt eigentlich auch keinen anderen Weg. Aber Sie haben das Wichtigste vergessen. Seine grenzenlose Liebe.«
    Barbarotti nickte, doch bevor er das Gespräch wieder auf die richtige Spur lenken konnte, nahm Berglund den Faden erneut auf.
    »Es ist also am selben Tag passiert?«
    »Was?«, fragte Barbarotti.
    »Ich habe meine Ehefrau am selben Tag verloren, an dem Ihre eine Gehirnblutung erlitten hat. Das ist doch etwas merkwürdig. Wir sollten zumindest die Voraussetzungen haben, einander zu verstehen,

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