Einschlafbuch Fuer Hochbegabte
Bände, die eine Stadt oder Provinz auf alten Fotos oder Ansichtskarten zeigen. Sir Geoff Hurst, geadelter britischer Fußballer, sieht sich nachts Aufzeichnungen alter Spiele an, sonderbarerweise nicht Fußball, sondern Cricket: »Nichts sediert so wie Cricket.«
Leider wird diese Sportart bei uns nicht gezeigt. Doch Fernsehen schläfert von sich aus bereits viele Zuschauer ein, oft unabhängig von der Sendung; Physiker erklären es mit der Bildfrequenz. Sicherheitshalber haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten obendrein echte Bettbeschwerer ins Nachtprogramm genommen. Besonders empfehlenswert ist der freundlich nuschelnde Live-Maler Bob Ross; nach Umfragen schafft es kaum ein Zuschauer bis ans Ende einer 25-Minuten-Folge. Vergleichbare Resultate erzeugen nur die nachts ausgestrahlten Aufzeichnungen von Bahnfahrten und der unablässig wiederholte Klosterfilm Die große Stille .
Das ist indes nichts für Leute, die bei Schlaflosigkeit zu düsterer Stimmung neigen. Ihre Melancholie würde sich nur verstärken. Sie müssen aktiv werden und sollten zumindest, wie die Kinderbuchautorin Enid Blyton, ein einfaches Puzzle legen. Oder, nun wird es anspruchsvoller, eine Collage basteln, wie der nachts von unbegreiflicher Trauer heimgesuchte Künstler Max Ernst. Oder sie müssen, da sie als melancholische Typen zur Eitelkeit neigen, in den Spiegel sehen. Nicht nur mal so eben im Vorbeischlendern. Sondern richtig lange.
Zwei dem Stil nach verwandte Maler taten das unabhängig voneinander: Fernand Khnopff und Max Klinger. Sie blickten sich auf diese Weise selbst unverwandt in die Augen, bei Kerzenlicht. Nüchtern betrachtet, handelte es sich um eine frühe Form des autogenen Trainings, jedenfalls um eine Art Selbsthypnose, die in Schlaf und kreativen Träumen endete. Klinger berief sich auf Rembrandt; der habe das auch getan. Am Morgen nach solch narzisstischer Nacht begaben sich die Meister jedenfalls inspiriert an die Staffelei und schufen nicht selten ein Selbstporträt.
»Der Schlaf von Genies hat selbst etwas Geniales«, hat Woody Allen erklärt. Er spielte nicht nur auf die Unregelmäßigkeit an, auf die krausen Gewohnheiten und die Störanfälligkeit, sondern auch auf die Fülle von Gedanken und Einfällen im Dämmerzustand. Er selbst bevorzugte es eine Zeit lang, der Wachheit durch die Betrachtung koreanischer Schriftzeichen abzuhelfen. Er konnte kein Koreanisch. Doch gerade das scheinbar Nichtssagende brachte ihn – entweder auf Ideen oder zum Schlafen.
Als man bei Galileo Galilei die Bücher des Alten Testaments im originalen Wortlaut fand, nämlich auf Hebräisch, war man von der Frömmigkeit des Naturwissenschaftlers beeindruckt. Jedoch nur kurz. Es stellte sich heraus, dass er kaum drei Worte Hebräisch beherrschte. Gleichwohl hatte er sich den Schriften, so schworen seine Schüler, immer wieder an langen Abenden gewidmet. Wohl wahr. Aber eben nicht, um die Bedeutung zu erfassen, sondern um jenseits aller Bedeutung müde zu werden.
Das nennt man meditative Lektüre. Wer noch nicht ganz so fortgeschritten ist wie Woody Allen oder Galilei, wird vielleicht einen Rest von Bedeutung vorziehen. Ich empfehle die deutsche Literatur, vor allem des neunzehnten Jahrhunderts. Nicht nur verfügt sie über herrlich lange einschläfernde Sätze. Sie ist auch voller beschaulicher Schilderungen, vergleichbar den Landschaften alter Meister, die Picasso betrachtete. Ich habe die einlullendsten Texte der großen Meister zusammengestellt, zu einem Buch, das ich hier vollkommen uneigennützig empfehle. Es heißt Gute Nacht – mit deutscher Dichtung in den Tiefschlaf .
Wenn Sie also noch einen Rest Wachheit haben – aber, oh, ich merke, Sie schlafen ja schon. Hallo? Heh? Sie da?
Na, denn. Glückliches Erwachen!
Von Dietmar Bittrich sind im Deutschen Taschenbuch Verlag außerdem lieferbar:
Böse Sprüche für jeden Tag (20676)
Böse Sprüche für Sie & Ihn (20761)
Wie man sich und anderen das Leben schwer macht (20951) Der bitterböse Weihnachtsmann (21027) Böse Sterne (21104)
Das Osterkomplott (21126)
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