Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
Angabe irgend eines Beweises. Der Neffe begriff den Zusammenhang, empfand die Notwendigkeit der Begründung, und machte sich wiederum ganz selbständig daran, das Fehlende zu entwickeln. Das war nun freilich nicht das Objekt einer »Faulheitsrechnung« mit einem aufspürbaren x, vielmehr galt es hier, eine geometrische Fähigkeit zu entfalten, die auf so früher Entwicklungsstufe nur bei sehr wenigen angetroffen wird. Der Knabe verbohrte sich dreiWochen lang mit angestrengtem Nachdenken in seinen Pythagoras, geriet auf die Betrachtungen der ähnlichen Dreiecke (indem er vom Scheitelpunkt der rechtwinkligen Figur die Senkrechte auf die Hypotenuse fällte), und stieß dadurch auf die sehnsüchtig erhoffte Bewahrheitung des Satzes! Und wenn es sich auch um uralt Bekanntes handelte, für ihn war es die erste Entdeckerfreude. Der Beweis, den er gefunden hatte, bewies den erwachenden Scharfsinn des jungen Grüblers.
Wiederum ging ihm eine Welt auf, da er mit A. Bernsteins umfangreichen naturwissenschaftlichen Volksbüchern Bekanntschaft machte. Dieses Werk gilt heute als reichlich antiquiert und ist in den Augen manches Fachmannes zur Tiefe scheinwissenschaftlicher Schmöker herabgesunken, hatte ja auch schon damals, als Knabe Einstein darin wühlte, Schimmel und Rost angesetzt, denn es stammt aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und war sachlich längst überholt. Allein man konnte – und kann noch heute – darin lesen wie in einem Roman mit tausend eingestreuten physikalischen, astronomischen, chemischen Wundern, und für den Knaben Einstein wurde es wirklich das Buch der Natur, das seinem erkenntnisgierigen Verstand ebensoviel bot, wie seiner Phantasie.
Andere Horizonte wiederum öffnete ihm Büchners »Kraft und Stoff«, ein Werk, dessen kraftstoffliche Minderwertigkeit er noch nicht zu durchschauen vermochte, das er vielmehr kritiklos bewunderte. Daneben beschäftigte ihn zumeist ein Handbuch der elementaren Planimetrie mit einer Fülle geometrischer Aufgaben, die er unverzagt angriff und in kürzester Zeit fast ausnahmslos bewältigte. Sein Entzücken wuchs, als er, ganz unabhängig vom Lehrgang der Schule, sich in die Schwierigkeiten der analytischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung hineinwagte. Lübsens Lehrbuch war ihm in die Hand gefallen und diese Anleitung genügte seinem Wagemut. Während manche seiner Gymnasialgenossen noch verzagt an den Tümpeln der Kongruenzsätze und der Dezimalbrüche standen, tummelte er sich schon als Freischwimmer im infinitesimalen Ozean. Seine Übungen blieben nicht verborgen und fanden Anerkennung. Der ihm vorgeordnete Mathematiklehrer erklärte den Fünfzehnjährigen für universitätsreif.
Allein nicht durch ein vorzeitiges Abitur sollte er den Weg ins Freie finden, sondern durch ein Ereignis, das ihn mit unvermuteter Abbiegung in einen neuen Lebenskreis warf. Im Jahre 1894 verlegten seine Eltern den Wohnsitz nach Italien. Von einem Trennungsschmerz Adalberts beim Verlassen des bajuvarischenBodens weiß die Chronik nichts zu berichten. Er war froh, von der Drillanstalt Luitpold loszukommen und genoß als Insasse Mailands die Veränderung des Daseins, unbeschwert von Anwandlungen des Heimwehs. Alles in allem genommen hatte er sich doch im Münchener Schulzwang recht verunglückt gefühlt; trotz aller selbstgeschaffenen mathematischen Sensationen, trotz der Beseligungen, die ihm das Aufgehen musikalischer Offenbarungen schon vom zwölften Lebenslenz an verschafft hatten. Innerer Trotz und Mißtrauen gegen Einflüsse von außen waren in ihm rege geblieben als Kräfte, die einen dem Alter angepaßten Frohmut nicht aufkommen ließen. Nun waren die Fesseln gefallen, und wie durch aufgezogene Schleusen brach die aufgestaute Lebenslust hervor. Südliche Sonne, südliche Landschaft, italienisches Volkstreiben, Kunst, frei hingestellt auf Markt und Straße, verwirklichten ihm Traumbilder, die ihn vordem in Bedrängnis umgaukelt hatten. Was er sah, fühlte und erlebte, lag außerhalb der Gewohnheit, öffnete ihm den Sinn für natürliche und menschliche Dinge, befreiten seine Seele von der Dämpfung. Ein Schulbesuch kam für die Dauer eines halben Jahres gar nicht in Frage. Er genoß volle Freiheit, beschäftigte sich mit Literatur, unternahm weite Ausflüge. Von Pavia aus wanderte er ganz allein über den Appenin nach Genua. Während er sich an der Erhabenheit der Berglandschaft berauschte, gewann er Fühlung mit der Unterschicht des Volkes, das ihm tiefste
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