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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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ausgestreckter Arm, sein überlanger Zeigefinger wiesen zur Reservebank, vielleicht auch gleich zum Ausgang. Ich blickte zu unseren Leuten: warum umringten, bedrängten sie ihn nicht? Warum nahmen sie ihn nicht in die Zange und setzten ihn unter Druck, seine Entscheidung zu widerrufen? Warum standen sie so mutlos und kopfhängerisch da, bei einem Feldverweis, vier Minuten vor Schluß? Wie konnten sie einverstanden sein mit dieser Entscheidung? Ich sah auf den Schiedsrichter, der immer noch Wegweiser spielte, starr und unnachgiebig. Ich ging vom Platz, ging durch ein Spalier der Mutlosigkeit und später der Empörung, als ich den Gang zwischen den Bodelsbacher Anhängern passierte.
      Als Klaus vom Platz ging, in Richtung zur Reservebank, forderte Plessen ihn nicht auf, sich zu setzen. Unser Trainer schien ihn nicht wahrzunehmen, und nach kurzem Zögern ging Klaus, eine Hand auf seinen Unterleib gepreßt, ohne Eile oder Betroffenheit - eher mit einem Ausdruck zager Geringschätzung - den Tribünengang hinauf zu den Kabinen. Er wandte sich nicht ein einziges Mal um, zu uns, zum Spielfeld, wo der Schiedsrichter aus seiner Starre erwachte und mit einem Pfiff das Spiel weitergehen ließ. Im Davongehen sah er nicht so aus, als hätte er Lust, sich vor uns zu rechtfertigen.
      Ich ging in die Kabine und zog mich an, und ich war noch
    nicht fertig, als dunkler Beifall und ein Trampeln und Hämmern in der Halle ein neues Resultat verkündeten: Bodelsbach, mit einem Mann mehr auf dem Feld, war in Führung gegangen. Ich wußte, daß es zwischen uns nichts zu sagen gab, später, nach dem Spiel: Plessen hätte geschwiegen, und alle aus der Mannschaft hätten geschwiegen; vielleicht hätten sie es fertigbekommen, in meiner Gegenwart über das Spiel zu sprechen, ohne mich zu erwähnen, jedenfalls hätten sie mir auf ihre Art zu verstehen gegeben, wieviel der Mannschaft an mir lag. Warum sollte ich da bis zum Ende des Spiels warten?

    1969

Die Augenbinde

    Der Korrektor unterbrach das Spiel. Er schob die Karten zusammen, warf sie auf den Fenstertisch und wischte sich langsam über die Augen, hob dann sein Gesicht und blickte durch das Abteilfenster in die Dunkelheit draußen. Das war erst Wandsbek, sagte einer der beiden anderen, worauf der Korrektor die Karten wieder aufnahm, sie mit dem Daumen zum Fächer auseinanderdrückte und schweigend ausspielte. Nach zwei Stichen, die er abgeben mußte, schob er abermals die Karten zusammen, ließ sie leicht klatschend gegen das Fenster fallen und sagte: Es steht in keinem Buch, ich hab überall nachgeschlagen. Du bist am Ausspielen, sagte einer der beiden anderen, ein alter Mann mit Stahlbrille. Es war einfach nicht zu finden, sagte der Korrektor. Fang nicht wieder an, sagte der Mann mit der Stahlbrille, ich hab's grad vergessen. Also spielen wir oder spielen wir nicht, sagte der Rothaarige.
      Sie spielten weiter. Sie spielten schweigend wie an jedem Abend, wenn sie im letzten Vorortzug saßen, der Hamburg verließ, jeder erfüllt von seiner Müdigkeit und dem Wunsch, auf der Heimfahrt nicht sich selbst überlassen zu sein. Zwanzig oder sogar dreißig Jahre hatten sie sich so nach Hause gespielt, nicht gleichgültig, aber auch nicht erregt, drei Männer aus der geduldigen Gemeinschaft der Pendler, die sich beinahe zwangsläufig gefunden hatten und die sich nun in einer Art instinktivem Einverständnis immer wieder fanden, immer im vorletzten Abteil, das sie mit knappem Gruß betraten und auch wieder verließen.
      Sie spielten lautlos, keinem schien daran gelegen, auch nur ein einziges Wort über Gewinn oder Verlust zu verlieren, und dann war es wieder der Korrektor, der das Spiel unterbrach. Man muß es doch herausbekommen, sagte er, man muß doch wohl erfahren können, wie sich Tekhila schreibt. Ich gebe, sagte der Rothaarige.
      Warum mußt du das wissen, sagte der Mann mit der Stahlbrille. Manches möchte man herausbekommen, sagte der Korrektor. Wozu? Man sollte nicht alles lassen, wie es ist. Heb ab, sagte der Rothaarige und verteilte. Morgen erscheint die Sache, sagte der Korrektor. Tekhila wird viermal genannt in der Geschichte, und jedesmal wird es anders geschrieben. Ich höre, sagte der Rothaarige.
      Ist das ein Dorf, fragte der Mann mit der Stahlbrille und steckte seine Karten zusammen. Tekhila heißt ein Dorf in einer Geschichte, sagte der Korrektor. Wer hat mehr als zwanzig? fragte der Rothaarige.
      Sie sahen in ihre Karten, keiner konnte mehr als zwanzig

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