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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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entdecken, und dem Rothaarigen gehörte das Spiel. Der Regen sprühte gegen das Abteilfenster. Der Zug fuhr langsamer jetzt, bremste neben einem leeren, schlecht beleuchteten Bahnsteig; sie hörten Türen zufallen und dann hastige Schritte auf Steinfliesen. Als der Zug wieder anfuhr, war der Korrektor an der Reihe, zu geben, und der Mann mit der Stahlbrille fragte: Warum ausgerechnet Tekhila?
      Ich weiß nicht, sagte der Korrektor und hob das graue, unrasierte Gesicht. Kennst du Tekhila? Nein.
      Zieht's dich dorthin? Nein. Was also?
      Sie sind blind, sagte der Korrektor, in Tekhila sind alle blind; sie werden blind geboren und wachsen heran und heiraten und sterben blind. Es ist eine alte arabische Augenkrankheit.
      Spielt die Geschichte in Marokko, fragte der Mann mit der Stahlbrille. Nein, sagte der Korrektor, ich weiß nicht. Er ließ seine Karten achtlos auf dem Fenstertisch liegen und wischte sich über die Augen, während die anderen ihr Blatt betrachteten und es gleichzeitig zusammenschoben, resigniert, abwinkend.
      Der dicke Hund ist bei dir, sagte der Rothaarige. Sie heißt »Die Augenbinde«, sagte der Korrektor. Wer?
      Die Geschichte, die Geschichte da in Tekhila. Es ist eine alte lederne Augenbinde, die der Bürgermeister aufbewahrt.
      Für wen, fragte der Mann mit der Stahlbrille und legte seine Karten ebenfalls auf den Fenstertisch. Ich weiß nicht, sagte der Korrektor, vielleicht für jeden in Tekhila. Es ist ein kleines Dorf auf einer Ebene, wenig Schatten, ein Fluß mit lehmtrübem Wasser geht da vorbei, und die Leute, die blinden Einwohner von Tekhila, arbeiten auf ihren Feldern.
      Beginnt so die Geschichte, fragte der Mann mit der Stahlbrille.
      Nein, sagte der Korrektor, die Geschichte beginnt anders. Sie beginnt im Haus des Bürgermeisters. Der Bürgermeister nimmt eine lederne Augenbinde vom Haken. Es ist dunkles, fleckiges Leder und staubig, und der Bürgermeister wischt die Binde an seiner Hose sauber. Er poliert sie mit seinen Fingerspitzen, und dann verläßt er das Haus. Vor seinem Haus sitzt ein Korbflechter bei der Arbeit. Der Bürgermeister halt ihm die Augenbinde hin, läßt ihn das kühle Leder betasten; der Korbflechter springt erschrocken auf und folgt dem Bürgermeister, sie gehen gemeinsam über den Platz und die krustige Straße hinab zu den Feldern, und überall, wo sie einem Mann begegnen, bleiben sie stehen, der Bürgermeister hält ihm stumm die lederne Augenbinde hin, läßt ihn erschrecken. Und jeder folgt ihm, sagte der Rothaarige. Ja, jeder, der die Augenbinde betastet, erschrickt und folgt dem Bürgermeister, sagte der Korrektor. Sie unterbrechen ihre Arbeit oder ihr Nichtstun. Sie fragen nicht. Sie folgen ihm einfach, und der Bürgermeister selbst sagt kein einziges Wort, während er die Männer von Tekhila sammelt oder auf sich verpflichtet, indem er ihnen die Augenbinde hinhält, und zuletzt hat er alle Männer des Dorfes hinter sich.
      Und so beginnt die Geschichte, fragte der Mann mit der Stahlbrille. So ähnlich, sagte der Korrektor, morgen steht sie in unserem Blatt. Morgen kannst du sie nachlesen. Tekhila wird viermal genannt und jedesmal anders geschrieben.
      Und der Kerl mit der Augenbinde, fragte der Rothaarige. Wer?
      Der Bürgermeister und alle, die er hinter sich hat - wo ziehen die hin ?
      Zur Schule, sagte der Korrektor. Es ist Mittag, ich glaube Mittag, und sie ziehen schweigend zur Schule und umstellen das Gebäude. Sie fassen sich bei den Händen und bilden einen Ring. Sie stehen lauschend da, sie erproben hier und da die Festigkeit des Ringes. Ihre Bereitschaft, ihre stumme Verständigung, die Schnelligkeit, mit der sie das Schulgebäude umstellen - alles scheint darauf hinzudeuten, daß dies nicht zum ersten Mal geschieht. Ruhig stehen sie in der Sonne, und dann löst sich der Bürgermeister aus dem Ring und geht auf das Gebäude zu. Er klopft. Der blinde Lehrer von Tekhila öffnet, und der Bürgermeister läßt ihn die lederne Augenbinde betasten. Der Lehrer bittet ihn ins Haus. Er weiß, daß das Haus umstellt ist. Er fragt: ›Wer?‹, und der Bürgermeister sagt: ›Dein Sohn‹. Der Lehrer sagt: ›Das glaubt ihr doch selbst nicht‹, und der Bürgermeister darauf: ›Wir haben Beweise.‹ Sie reden leise auf dem Flur, einer versucht den anderen zu überzeugen oder zu überlisten. Der Bürgermeister verlangt den Sohn des Lehrers zu sprechen. Der Lehrer bietet unaufhörlich Garantien für seinen Sohn

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