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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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seufzt einer, das ist der Stabschef. Ich binde den Oberbefehlshaber höflich, zu seiner eigenen Sicherheit, auf der Wippe fest, und auf ein Zeichen von Erich mache ich ihn darauf aufmerksam, daß er den rechten Zeigefinger heben soll, wenn es ihm zu ungemütlich wird. Die nun folgende Übung, sagt Erich zum Zivilisten, dient der Konzentration und der Erinnerung, und danach packt er den Oberbefehlshaber an den schmächtigen Schultern, drückt ihn nach hinten, hält ihn so in gewagter Rücklage, bittet tatsächlich hörbar um Verzeihung und läßt den an die Wippe gefesselten Oberbefehlshaber los, die Wippe schlägt nach vorn, sie fällt der Wand zu, der Oberbefehlshaber sieht die Wand auf sich zufallen und reißt das Gesicht zur Seite, erprobt auch ruckartig den Spielraum der Glieder in den Fesseln, doch er schlägt nicht gegen die Wand, denn zehn Zentimeter vorher endet der Schwung der Wippe. Und jetzt geht es hin und her, vor und zurück, in berechnetem Rhythmus, in kalkuliertem Schwung: wer auf die Wippe gefesselt ist, hat unwillkürlich das Gefühl, daß er der Wand immer näher kommt, daß er, wenn nicht jetzt, so doch das nächste Mal mit dem Gesicht gegen die Wand geschlagen wird. Der Oberbefehlshaber reißt jedesmal das Gesicht zur Seite. Er protestiert nicht. Sein rechter Zeigefinger hebt sich nicht. Erich stellt einen Fuß auf die Wippe, hält die Wippe in Schwung. Er fragt: Erinnerst du dich? Fällt dir jetzt die Nummer des Regiments ein? Nicht? Immer noch nicht? Aber vielleicht kennst du andere Nummern, mein Junge? Entschuldigung, sagt Erich erschrocken und wendet sich zum Fenster um, doch vom Fenster ermuntert man ihn, in der begonnenen Weise fortzufahren; nur der Zivilist hat, wie erwartet, eine Frage. Der Zivilist möchte wissen, ob jeder Gefangene, der zur Vernehmung gebracht wird, die Möglichkeit erhält, durch ein Heben des rechten Zeigefingers die Befragung zu unterbrechen. Erich überläßt es mir, zu antworten, und ich sage deutlich: Ja, und dann binde ich auf ein Zeichen den Oberbefehlshaber von der Wippe los.
      Er taumelt, der leichte, schmächtige Mann ist nicht ganz da, will ich mal sagen; sein Körper zittert, er stöhnt leise. Sein Bursche segelt schon wieder mit einem Cognacglas heran. Der Adjutant hält ihn zurück. Der Adjutant kippt den Cognac selbst runter - zerstreut allerdings, das muß betont werden. Erich selbst verhindert, daß der Oberbefehlshaber eine Zigarette erhält. Erich hat längst die Klemmen in der Hand. Er arbeitet jetzt wie gewöhnlich, mit kurzem Schnaufen. Die Klemmen schnappen nach den mageren Handgelenken des Oberbefehlshabers und halten ihn stehend unter der Brause fest, es ist die Gedächtnisbrause. Welche Regimenter, fragt Erich und stößt dem Oberbefehlshaber aufmunternd in den Rücken. Welche Streitkräfte werden umgruppiert? Mit welchem Ziel?
      Der Oberbefehlshaber kann sich an nichts erinnern, ihm ist alles entfallen, und deshalb drehe ich die Brause auf, weil ich weiß, daß Erich mir gleich ein Zeichen dazu geben wird.
      Der Oberbefehlshaber ist naß. Das Tuch seiner Uniform
    schwärzt sich, es klebt an seinem Körper. Der magere Körper windet sich. Der Oberbefehlshaber gleicht einem traurigen Vogel im Regen. Wie erwartet, erkundigt sich der Zivilist nach der Temperatur des Wassers, die Auskunft stimmt ihn zufrieden, er nimmt eine bedächtige Eintragung vor. Um das Gedächtnis des Oberbefehlshabers zu erweichen, laß ich es noch mehrmals kurz niederregnen, doch ohne Erfolg: obwohl Erich mit der flachen Seite eines Lineals die Fragen skandiert, erhält er keine Antwort.
      Ich weiß, daß Erich gleich schreien wird, und tatsächlich: er schreit, schreit den Oberbefehlshaber an, schüttelt ihn, so daß ich schon anfange, mir Sorgen zu machen, und vom Fenster her höre ich den Stabschef auch schon rufen: Na, na, na; da lenkt Erich zum Glück wieder ein, lächelt und weist triumphierend auf den rechten Zeigefinger des Oberbefehlshabers, der sich nicht erhoben hat, nicht um Beendigung bittet. Los, sagt Erich, komm raus, nenn mir die Nummer des Regiments, warum willst du sie für dich behalten, du schadest dir nur.
      Ich weiß, daß jetzt die Sache mit der Zigarette und dem Schlauch kommen wird, doch als ich die Zigarette anstecke, gibt Erich mir ein energisches Zeichen, er schüttelt mitleidig den Kopf über mich und befreit den Oberbefehlshaber aus den Klemmen.
      Erich schubst den Oberbefehlshaber zum Streckbrett hinüber. Ich zwinge den

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