Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Sie meine Arbeiten »beliebige Zeugnisse der Phantasie«. So ungefähr, sagte Gregor, Texte, die zu nichts verpflichten; sie sind nicht durch Wirklichkeit beglaubigt. Und warum, fragte Klimke, warum verpflichten meine Texte zu nichts? Ein Mann, der durch die Wand gehen kann, sagte Gregor, dieser Mann aus ihrer zweiten Geschichte: dem machen die Verhältnisse nichts aus, der leidet nicht an Krankheiten, vermutlich kann er dem Tod ein Schnippchen schlagen. Wir können uns nicht mit ihm vergleichen, er bestätigt keine unserer Erfahrungen, und darum geht er mich nichts an. So einfach ist das, fragte Klimke lächelnd, und Gregor, seinen Rollkragenpullover über den massigen Körper nach unten ziehend: So einfach, ja. Wenn einem Mann der Hut wegfliegt, lache ich auf Kosten seines Pechs, das unser aller Pech sein könnte. Wenn aber ein Mann durch die Wand gehen kann, dann verliert er mein Interesse, weil er uns etwas vormacht, was niemand wiederholen kann. Nein, Gregor, sagte ich, das ist mir zu einfach. Du gehst davon aus, daß es unserer Erfahrung entspricht, nicht durch die Wand gehen zu können. Du berufst dich ausschließlich auf das Bild, das wir alle von einer Wand haben, gemauerte und verputzte Steine, durch die kein Körper unbeschädigt hindurchkommt. Dieses Bild ist gegeben. Es »steht fest«. Aber dieses Bild, das für uns alle gegeben ist, wird irgendwann zum Inhalt einer Wahrnehmung. Und die Sinne der Wahrnehmung sind etwas, worauf wir uns nicht unbedingt verlassen können. Sie folgen einem eigenen Zwang. Sie können das Bild verändern. Aber sie können keine Wand durchlässig machen, sagte Gregor. Das nicht, sagte ich, aber du kannst einen Mann so wahrnehmen, daß du ihm zutrauen mußt, durch eine Wand zu kommen.
Gregor kippte seinen Slivovitz und sah mich mit gespielter Besorgnis an. Für mich, mein Alter, sagte er, liegt die einzige Beweiskraft in der Realität. Oder nenn es Schwerkraft. An ihr ist die Phantasie immer gescheitert, und sie wird es, im Zweifelsfall, auch weiterhin tun. Dieter Klimke schüttelte in zaghaftem Protest den Kopf, dann sagte er leise: Die Phantasie - für mich hat sie ihre eigene Beweiskraft. Und ihre eigene Wirklichkeit. Aber sie ist nicht zu widerlegen, sagte Gregor, und was nicht widerlegt werden kann, das ist auch nicht wirklich.
Dieter Klimke richtete sich auf und sah zur Ecke hinüber, in der die Spielautomaten standen, und wir folgten seinem Blick. Der Bursche - gewürfeltes Sporthemd, engsitzende Lederjacke - nahm die Handtasche der Frau, stürzte den Inhalt auf den Tisch - unter anderem die Schwungfeder eines größeren Vogels - und suchte sich zwischen Schlüsseln, Ausweisen, Lippenstift die Geldmünzen heraus, während die Frau selbst interesselos in ihr Glas starrte, die Hände unter dem Tisch gegeneinander pressend. Sie war älter als der Bursche, vielleicht zehn oder zwölf Jahre älter, eine Frau mit sehr hellen Augen und harten, ebenmäßigen Gesichtszügen; offenbar hatte sie dem Wirt einen Dauerauftrag gegeben, denn von Zeit zu Zeit füllte er ihr Glas nach.
Da passiert gleich etwas, sagte Klimke, da bereitet sich etwas vor. Nur das Übliche, sagte Gregor, entweder Abschied oder Versöhnung. Nein, sagte Klimke, das glaube ich nicht. Dieser Fall liegt komplizierter, hier herrschen besondere Beziehungen. Jedenfalls kommen sie mir nicht wie
Kneipenbesucher vor.
Ich glaubte zu erkennen, daß die Frau versuchte, etwas zu beschließen, und daß es ihr um so schwerer fiel, je öfter sie trank, und ich sagte: Hier geht etwas zu Ende, und je länger sie hier bleibt, desto schwerer löst sich alles auf. Wir können es ja mal versuchen, sagte Gregor, wenn ihr der Phantasie soviel zutraut. Wir können ja mal versuchen, ihre Geschichte zu erzählen, ihre Vorgeschichte... was vorausging... was sie hierher geführt hat... Was meint ihr? Jeder von uns sollte einen Entwurf abgeben... Und was sollte damit bewiesen werden, fragte ich. Daß all unsere Phantasie die Wirklichkeit nicht deckt, sagte Gregor. Sie irren sich, sagte Klimke, manchmal muß die Wahrheit erfunden werden. Na, dann erfinden wir sie mal, sagte Gregor und musterte die beiden aus schmalen Augen, versuchen wir mal, ihnen einen Platz in einer Geschichte zu geben. Er machte eine einladende Handbewegung gegen Klimke, doch der winkte ab, der sagte nur: Wer den Einfall hatte, der sollte auch beginnen dürfen. Während der Wirt uns eine neue Lage brachte, sah Gregor ausdauernd in die Ecke mit den
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