Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen
Laubenkolonie, die nur von Straßen und Wegen zerschnitten wird, die einheimische Pflanzennamen tragen. Hier wohnen jetzt nur Griechen und Jugoslawen, sagt der Fahrer, und Belinda, aufschreckend: Nein, nein, nicht nur Griechen. Mit leisen Kommandos dirigiert sie den Fahrer, im Huflattichweg läßt sie halten, steigt schnell aus, lauft über die matschigen Beete eines Vorgartens auf eine Holzhütte zu, deren Fenster undurchsichtig geworden sind von Staub und Ruß. Der Taxichauffeur erkennt, daß sie nicht einmal klopft, nur die Tür, die sich anscheinend verworfen hat, ruckend aufreißt. Sie tritt ein. Den Raum kann jeder für sich selbst möblieren; zur Verfügung stehen ein durchgelegenes Sofa, zwei altmodische, viel zu große Sessel, ein Propangasofen, unter dem Fenster ein selbstgezimmertes, viel zu breites Schreibbrett, vollgepackt mit Papieren, Büchern, Tonfiguren, einem Transistor und einer Schreibmaschine. Neben dem Ofen ein Waschbord, und vor dem Waschbord dieser Bursche mit nacktem Oberkörper, der sich ächzend die Haare einseift und jetzt den Kopf hebt, durch beißenden Schaum herüberblinzelt und nicht mehr sagt als: Du bist es.
Belinda zeigt den Brief aus ihrer Manteltasche, stellt den Transistor ab, schubst einige Bücher von einem Sessel und setzt sich. Sie sagt: Nur einen Augenblick, Thomas, das Taxi wartet draußen, ich muß gleich wieder zurück. Wußte ich, sagt der Bursche und spült mit warmem Wasser die Seife aus seinem Haar, von diesem Tag ist nicht besseres mehr zu erwarten. Er reibt mit einem Handtuch sein Haar trocken, mißt die Frau mit einem schnellen Blick, entdeckt den Brief in ihrer Hand und kommt langsam näher. Lies vor, sagt er, heute haut mich nichts mehr um: ein Tag von glorreicher Beschissenheit. Warum, fragt Belinda, was ist passiert? Oder nenn es einfach den Begräbnistag, sagt der Bursche, und auf den Brief hinabnickend: Also, was muß ich noch beerdigen heute? Lies vor. Hast du deine Bewerbung wieder zurückbekommen, fragt die Frau, und der Bursche darauf: So ist es, von der fünften Firma zurück. Zurück, eingeschrieben und mit der Versicherung, daß meine Zeugnisse bedeutend seien, so bedeutend, daß die Firma lieber auf mich verzichten möchte. Tja, und vor zwei Stunden kam die Kündigung. Ich muß hier räumen - vermutlich werden demnächst Jugoslawen in die »Villa Belinda« einziehen - mit Familien.
Das tut mir leid, Thomas, sagt die Frau, und dann: Ich bin von deinen Fähigkeiten überzeugt, jedenfalls. Thomas lacht erbittert auf, pellt sich ein gewürfeltes Hemd an, wirft die knappe Lederjacke über; eine Zigarette im Mundwinkel, kämmt er sich sorgfältig vor einem stark vergrößernden Rasierspiegel. Er fragt: Und du, Belinda? Warum liest du mir den Brief nicht vor? Heute bin ich stark im Nehmen.
Die Frau blickt auf den Boden, auf den durchgetretenen Teppich; sie sagt leise: Christian wird versetzt, in den Westen. Ich werde ihn begleiten, Thomas, ich gehe mit ihm. Ist das die ganze Überraschung, fragt Thomas, und dann mit angestrengter Ironie: Schließlich ist er dein Mann, und du bist verpflichtet, ihm zu folgen, wohin er dich führt. Habt ihr schon Fahrkarten? Sprich nicht so, sagt Belinda; ich - es ist das letzte Mal, Thomas, ich kann dich nicht mehr besuchen. Immerhin, sagt der Bursche, für ihn ist dann die Zeit des Argwohns vorüber.
Er wendet sich um, nimmt ihr den Brief aus der Hand, überlegt, schlägt ihn leicht gegen seinen Handrücken und wirft ihn in unerwartetem Entschluß auf die Schreibplatte. Er sagt: Abschiedsbriefe soll man allein lesen, oder? Ich heb ihn mir für später auf, als krönenden Abschluß des Tages. Belinda blickt ihn entgeistert an, sie fragt: Ist das alles? Ist das alles, was du mir sagen möchtest? Und er darauf, achselzuckend: Reisende soll man nicht aufhalten - alte Erfahrung. Und dann, nach einem Blick durchs Fenster auf die wartende Taxe und den massigen Taxichauffeur, der sich gegen die Motorhaube lehnt: Nimmst du mich mit? Ein kleines Stück nur? Zur Stadt? Die Frau preßt die Lippen aufeinander, immer noch wartet sie auf etwas, von dem sie nicht genau sagen könnte, was es sein müßte; doch auf einmal steht sie auf, nickt und geht zur Tür. Sie steigen in die Taxe ein. Der Fahrer fragt: Wieder nach Hause? Ja, sagt die Frau, nur diesmal am Hauptbahnhof vorbei. Ist es dir recht, Thomas, wenn wir in der Nähe des Hauptbahnhofs halten? Sehr recht, sagt der Bursche und rückt nah an sie heran und tastet
Weitere Kostenlose Bücher