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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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einmalige Chance, die letzten wilden Pferde der Pußta zu sehen. Ein Ausflug nur, doch sie werden leider nicht vor Montagabend zurück sein: Judith liest den Brief, hebt dann langsam das Gesicht und sagt: Ein Vorwand, Berti, nichts als ein Vorwand. Da ist etwas falsch gelaufen; ich weiß nicht, was es sein könnte, aber etwas ist falsch gelaufen. Komm, laß uns ins Restaurant gehen, wir können beim Frühstück darüber sprechen.

    1973

Die Phantasie

    Es mußte für Dieter Klimke sprechen, daß wir nicht aufhörten, über seine abendliche Lesung zu reden, auch draußen im Regen noch, als wir die serbische Kneipe am Hauptbahnhof suchten. Zum Schutz gegen den kühlen Regen hatte Gregor sich den Mantel über den Kopf gezogen, und gebeugt vor mir hergehend, wiederholte er seine Ansichten über Klimkes erste Lesung auf unserer Autorentagung. Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil er in seinen Mantel hineinsprach und sich oft abwandte und in Seitenstraßen linste, wo er die Kneipe, die er aus dem fahrenden Bus entdeckt hatte, wiederzufinden hoffte. Er ging wie in schwerer Dünung in seinen riesigen, ausgelatschten Schuhen, die seine erwachsenen Söhne für ihn eintragen mußten.
      Glaub mir, mein Alter, sagte er, ihr habt euch von Klimke bestechen lassen, du und die anderen. Was er zu bieten hatte, waren doch nur feine Zauberkunststücke, einige Proben sehr feiner Equilibristik.
      Ich dachte an Dieter Klimke, an den zarten, knochigen Mann, der sich beinahe priesterlich betrug, der zu seinem Auftritt eine schwarze Krawatte anlegte und der seine kurze Prosa monoton von Manuskriptpapier las, das unter der Lampe blaßgrün, bläulich oder rosa schimmerte. Nein, Gregor, sagte ich, Klimke ist kein Zauberkünstler. Er hat uns nicht allein mit seiner ungewöhnlichen Phantasie bekannt gemacht. Er hat uns außerdem gezeigt, welcher Gesetzmäßigkeit das Phantastische folgt. Gregor brummelte etwas in seinen Mantel, und dann hakte er mich ein und sagte: Phantasie - ja, aber eine, die uns zu nichts verpflichtet. Es tut mir leid, mein Alter, aber ich kann nichts mit Geschichten anfangen, in denen Leute durch die Wand gehen können. Oder Pferde sprechen. Oder Figuren aus dem Bilderrahmen steigen und sich zum Essen an den Tisch setzen. Sie reichen nicht aus, um die Wirklichkeit wiederzuerkennen. Was verstehst du unter Wirklichkeit, fragte ich. Schwerkraft, sagte er, die widerlegt das Phantastische. Schwerkraft demütigt uns vielleicht, sagte ich, aber sie widerlegt nicht das Phantastische. Hast du denn nicht gemerkt, bei Klimke wird das Phantastische sofort in eine allgemeine Ordnung eingefügt, und damit hört er auf, zu befremden.
      Gut, mein Alter, dann muß ich dir sagen, daß mich ein sprechendes Pferd immer befremden wird, selbst wenn es mich auf plattdeutsch begrüßt. Auch in einer toten, künstlichen Landschaft, fragte ich, in einer Landschaft wie bei Klimke, in der es kein Gras, kein Wasser, keine Bäume gibt? Was hat das damit zu tun, fragte Gregor; und ich darauf: Das sprechende Pferd bei Klimke steht auf einem Boden, der wie aus Metall gemacht erscheint. In einer verstörten, verzauberten Umgebung. Kein Wind. Kein Himmel. Hier, glaube ich, kann ein Pferd sprechen, zumindestens hörte ich einen Menschen sprechen, der sich als Pferd verkleidet hat. Du hast einen Slivovitz nötig, mein Alter, sagte Gregor, und zwar einen doppelten. Und wenn du es genau wissen willst, was ich über die Sachen von Dieter Klimke denke: magisches Kunsthandwerk, das ist es. Mir ist etwas anderes aufgegangen, sagte ich. Und was ist das? Das Phantastische ist keine Republik für sich. Es existiert nicht getrennt von der Wirklichkeit, es gehört zu ihr. Es erstreckt sich auf alles... Und scheitert an der Schwerkraft, sagte Gregor, mich unterbrechend. Er blieb plötzlich stehen, hob den Kopf aus seiner Vermummung und vergewisserte sich: dort liegt der Eingang des Hauptbahnhofs, der dunkle Kasten dahinter ist die Markthalle, also muß es hier gewesen sein, in einer dieser kurzen Straßen. Ich schlug ihm vor, in eine andere Kneipe zu gehen, in eine der vielen Kellerkneipen, die wir passiert hatten, doch er gab noch nicht auf, er zog mich weiter an dreckigen Fassaden vorbei, die mit versauten Wahlplakaten bepflastert waren: Politiker mit aufgemalten Reißzähnen, augenlos oder Sprechblasen mit schweinischem Text vor dem Mund.
      Nach all den Lesungen heute, also - mir ist sehr nach etwas Serbischem, sagte Gregor.
      Zurückblickend merkte

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