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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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Spielautomaten, seine verfetteten Finger betrommelten den Aschenbecher, sein Kinn bewegte sich unter regelmäßigen Kaubewegungen, und als die Frau sich plötzlich erhob und zur Toilette ging, wandte er sich uns zu und sagte leise: Eine, es gibt nur eine Geschichte, die man ihnen anpassen kann; die übliche Geschichte, und wenn Ihr wissen wollt, wie ich sie mir vorstelle... was die beiden verbindet oder nicht mehr verbindet...
      Also: ich sehe zum Beispiel diese Frau dort - für mich heißt sie Belinda - ihren Kindern bei den Schularbeiten helfen, in einem freundlichen, stillen Haus, das unter dem Schutz von Torbuchen steht. Es sind anstellige, gutgekleidete Kinder, ein blonder Junge, ein dunkelhaariges Mädchen, vielleicht auch umgekehrt. Beide wetteifern miteinander um die Sympathie ihrer Mutter, beide schieben ihr wechselweise das Heft hin, in der Hoffnung auf ein wenn auch zerstreutes Lob. Belinda sitzt so, daß sie durchs Fenster sehen kann: im Hintergrund der mäßig befahrene Strom, näher heran die mit gefährdeten Bäumen bestandene Steilküste, dann das gewundene Band der Sandstraße und schließlich die Blende aus schilfbraunem Geflecht, die um das Grundstück herumgezogen ist und es uneinsehbar macht. Die Kinder malen vorgezeichnete Figuren mit Farbe aus, hastig, etwas von der Unruhe der Mutter scheint auf sie übergegangen zu sein, und dann springt Belinda auf, geht ans Fenster und winkt ein Signal zur Taxe hinunter, die langsam über den Sandweg heranrollt. Sie wirft den bereitliegenden hellen Trenchcoat über, und im Davongehen ermahnt sie und belobigt sie die Kinder: Ihr macht es schon sehr schön. Aber ihr müßt noch weiter üben. Ich bin bald zurück.
      Kaum ist sie aus dem Zimmer, da stürzen die Kinder ans Fenster und sehen ihr nach, wie sie zur Taxe läuft und sich ungeduldig mit dem Fahrer bespricht. Der Fahrer zieht seine Schirmmütze ab, als er Belinda die Wagentür öffnet; er ist ein feister Mann mit zerfließenden Formen, unerwartet höflich und sehr gesprächsbereit. Im Rückspiegel erkennt er, wie die Frau sich zurückdreht und zu den Kindern am Fenster hinaufsieht. Nett wohnen Sie hier, sagt er, und mit so netten Kindern.
      Ja, sagt Belinda, sie hängt eine Hand in den Haltegriff und schließt die Augen, weniger aus körperlicher Erschöpfung als aus Resignation vor dem Mitteilungsbedürfnis des Fahrers, der ihr sagen muß, welche der geräumigen, sahnefarbigen Häuser von welchen Familien bewohnt werden und welche ausgeübten Berufe sie hier hineinführten. Es klingt sachgemäß, jedenfalls nicht anklägerisch, wenn er im Vorüberfahren blickweise auf ein Haus deutet und etwa sagt: Die Brusbargs, da auf dem Hügel, die verdanken alles ihren Soßen. Weil nämlich der Großvater, der hatte die Idee, Soßen in Tüten abzufüllen, ich meine dies Pulver, aus dem man Soßen macht. Zuerst hat noch die ganze Familie die Tüten zu Hause abgefüllt, dann kam die Fabrik. In plötzlicher Furcht öffnet Belinda ihre Handtasche, sucht, findet den gesuchten Brief, liest den Namen des Empfängers - Thomas Niebuhr - und steckt den Brief in die Manteltasche. Da, sagt der Fahrer - er zeigt auf das Städtische Krankenhaus - da lag ich noch vor vierzehn Tagen. Hoffentlich nichts Ernstes, sagt Belinda in mechanischer Teilnahme. Nabelbruch, sagt der Fahrer, und, ihren Blick im Rückspiegel suchend: Da tritt alles nach außen, junge Frau. Ich war nämlich achtzehn Jahre Fernfahrer, müssen Sie wissen, Fleischtransporte, und den Anhänger habe ich immer selbst beladen. Gefrorene Viertelrinder aus Argentinien, müssen Sie wissen, jedes so zweieinhalb Zentner. Das Schlimmste ist das Bücken mit der Last, das hält kein Bauchnabel aus.
      Bitte, sagt Belinda, ich fühle mich nicht wohl. Sie massiert leicht ihre Schläfen und vergräbt sich dann in ihren Mantel. Versteh schon, sagt der Fahrer, nichts für ungut, zu allem gehören Nerven, schließlich. Aber jetzt möchte ich mal fragen - zu dieser Laubenkolonie, wo Sie hinwollen, können wir über die Helmholtzstraße fahren oder über den Leistikowstieg - wie möchten Sie? Ich weiß nicht, sagt Belinda, nur: rasch. Sie senkt ihr Gesicht, weil sie den vergewissernden Blicken im Rückspiegel entgehen möchte, offenen und sogar sanften Blicken, und in der Hoffnung, schweigen zu können, sagt sie wie abschließend: Sie können dann auf mich warten, ich fahre gleich wieder zurück. Über eine Brücke fahren sie und dann parallel zum Strom bis zur

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