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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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auf zehn Meter, sagte Mutter später. »Gibt’s Probleme?«, fragte er.
    »Nein, nein, alles in Ordnung.« Der Setzer sah Mutter flehend an. »Nicht wahr, meine Dame?«
    Die Lippen meiner Mutter begannen zu zittern. Sie schaute von einem zum anderen, auch auf mich, die vor Angst weinte, und im letzten Augenblick kam sie endlich zur Besinnung.
    »Ach, machen Sie doch, was Sie wollen!«, rief sie und zerrte mich hinaus auf die Straße. Draußen schüttelte sie mich: »Hör auf zu heulen! Stell dich nicht so an! «
    Dabei heulte sie selbst. Ich war entsetzt. Was war bloß in sie gefahren?
    Nachts, wenn ich keinen Schlaf fand, hörte ich die Stimme unseres ehemaligen Hausmeisters: »Wollen Sie, dass die mit Ihnen wegfahren ...?«
    Der arme Herr Schmidt war wie ein Geist, der immer noch durch die Wohnungen schwebte und warnte und mahnte, sobald man vom Pfad der Vorschriften abwich. Dabei waren »sie« selbst mit ihm eines Tages weggefahren, obwohl er sich immer bemüht hatte, alles richtig zu machen. Man raunte sich zu, er habe das Hausmädchen der alten Bechtolf mit einem Kohleeimer im Keller der Beckers ertappt und zur Rede gestellt, worauf die Bechtolf ihn unverzüglich angezeigt habe wegen »wehrkraftzersetzender Äußerungen«. Wir haben nie wieder von ihm gehört.
    Wollte meine Mutter, dass man mit ihr wegfuhr wegen dreißig Franzosen, die wir nicht einmal gekannt hatten?
    Ich konnte nur hoffen, dass Lexi sie zur Vernunft brachte. Doch als Mutter nach ihrem Telefonat aus dem Wohnzimmer kam, sah ich gleich, dass sich nichts geändert hatte und sie sich mit ihrem neu gefundenen Nein jetzt für etwas Besseres hielt.
    »Man muss die Nazis nicht mögen«, hatte mein Vater gesagt, »aber ohne sie ist der Krieg nun mal nicht zu gewinnen.« Und er hatte mir erklärt, dass sich die Völker der Welt in einem Kampf um Lebensraum befänden und wir diesen Lebensraum für Deutschland gewinnen müssten, wenn wir als Volk überleben wollten. Gerade noch rechtzeitig hätten wir uns gegen den Schandvertrag von Versailles erhoben, mit dem die Sieger von 1918 unser Land hatten ausbluten lassen wollen.
    Dachte meine Mutter, man könne den Krieg jetzt einfach anhalten und rufen: Ich mache nicht mehr mit!? Hatte sie nicht gejubeltund geflaggt, als Warschau fiel, und Paris? Für den Sieg musste man Opfer bringen, nun auch wir. Hatte sie das vergessen, sobald es auf uns ankam?
    Ich war nicht froh, dass Fabian dieses Opfer war, ganz gewiss nicht. Aber stolz war ich doch. Ich stand nun auf derselben Stufe wie Angelika, Bettina, Juliane, eine ganze Reihe meiner Kameradinnen, die einen toten Kriegshelden in der Familie hatten. Es gab sogar eine Nadel, die man sich dafür anstecken durfte. So würde wenigstens ich Fabian Ehre erweisen! Das war das Letzte, was ich für ihn tun konnte.
    Was meine Mutter betraf, versuchte ich von da an wegzuhören – nicht nur, weil ich ihr Verhalten nicht verstand, sondern weil es mich zusehends kränkte. Ich war nun ihr einziges Kind und spürte bereits die Pflicht auf mir lasten, in allem, was ich tat, in Zukunft sehr vorsichtig zu sein, um mich ihr zu erhalten. Mein Wert, aber auch meine Verantwortung hatten sich durch Fabians Tod gewissermaßen verdoppelt.
    Aber das erkannte offenbar nur ich alleine. Meiner Mutter schien nicht bewusst zu sein, dass ich von Bedeutung war. Was ich sagte, tat oder dachte, berührte sie kaum. Nicht nur Fabians, sondern auch mein Leben schien sie mit einem Mal abzuwiegen gegen das der dreißig Franzosen, und deren Übermacht drückte mir die Luft ab.
    Kurz nach Beginn des neuen Schuljahrs brachte ich wieder einmal einen Aufruf zur Kinderlandverschickung mit nach Hause. Die beiden vorherigen Aufforderungen hatte Mutter ärgerlich weggeworfen, diesmal fragte sie, ob ich gehen wolle.
    Ich lehnte auf der Stelle ab. Aus dem Kopf ging mir die Frage aber nicht, und nach einigen Tagen wurde mir plötzlich klar, welche Chance darin lag. Selbstverständlich würde ich Mutter fehlen, wenn ich erst einmal fort war! Bis ich im Frühjahr nach sechs langen Monaten zurückkehrte, würde sich mein Wert für sie gänzlich neu bemessen haben!
    Ihre Briefe waren liebevoll, ich konnte hoffen. Doch in meine Zeit in Oschgau fielen die ersten schweren Bombenangriffe auf Berlin, aus den geplanten sechs Monaten wurde das erste, dann das zweite Jahr. Und wenn Piotr nicht gestohlen und ich mich nicht eigenmächtig in den Zug nach Hause gesetzt hätte, dann wäre ich immer noch dort, satt, zufrieden und fern

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