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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Brief fällt mir ein. Ellen hat uns davon erzählt, zur vorbeugenden Warnung: Die Eltern hatten dem Sohn an die Front geschrieben, er solle sein Blasenleiden kultivieren, damit sie ihn nach Hause entlassen. Aber der Brief wurde geöffnet und gelesen wie alle Feldpost, das Ehepaar verhaftet und zum Tode verurteilt und der Sohn dieser Idioten ist immer noch in Russland.

D REI
    Nächtliche Fliegerangriffe haben einen unschätzbaren Vorteil: Man kommt nicht ins Grübeln. Gemessen an den zermürbenden Nächten der vergangenen Wochen kommt mir diese Art der Schlaflosigkeit nahezu friedlich vor, denn ihre Ursachen haben nichts mit mir zu tun. Nachts kommen nur die Briten, die am Tag Angst haben vor unseren Jagdfliegern. Die Ersten setzen »Christbäume«, helle Lichtteppiche zur Markierung in den Himmel, und wenn keiner davon über dem eigenen Stadtteil schwebt, kann man einigermaßen beruhigt den nächsten Stunden entgegensehen. Vorausgesetzt, die folgenden Piloten verlieren nicht die Nerven und klinken ihre Bomben zu früh oder zu spät los, was häufig genug vorkommt. Ob sie sich die Panik und Todesangst ausmalen, die sie mit einem einzigen Knopfdruck auslösen?
    Von dort oben muss die brennende, explodierende Stadt ein beeindruckendes Schauspiel bieten. Manch eine Bomberbesatzung schreibt vor dem Start liebe Grüße an uns auf ihre Ladung. Wahrscheinlich fühlen sie sich wie Gott in diesen Augenblicken, wenn sich Zigtausende im Lichtermeer am Boden zusammenkrümmen, die Ohren zuhalten und die Münder gegen den Luftdruck aufreißen; Augenblicke, in denen es allein in ihrer Hand liegt, zu zerstören oder zu verschonen. Aber ob das ein angenehmes Gefühl ist...? Wenn ich Gott wäre, würde ich mich fernhalten von allen, die auch nur eine Sekunde glauben, wie er zu sein, und ich würde dafür sorgen, dass sie es wissen.
    Ich wundere mich selbst, wie wenig Angst ich habe. Interessiert beobachte ich die anderen: Frau Kochs Wimmern, Frau Wahls Fluchen, Mutters und Frau Beckers stummes Zittern. Herr Beckerkommentiert zackig mit: »Peng!«, »Uff! « und »Hui! Habt ihr das gehört?«, und rennt alle zehn Minuten auf den Eimer.
    Die Ungerührtesten in unserem Keller sind Olesia, Jörg-Alfred, die Bechtolf und ich: Olesia, weil sie sich im Deckenversteck gar nicht rühren kann, Jörg-Alfred, weil er nichts anderes kennt als Bomben und Keller, ich, weil ich schon Schlimmeres erlebt habe, und die Bechtolf, weil sie fest daran glaubt, dass sie den Endsieg sehen wird. Unbeirrt sitzt sie unter ihrer Petroleumfunzel und liest Groschenromane.
    Alle halbe Stunde, ich könnte die Uhr danach stellen, unterbricht Mutter ihr Kartenspiel mit Frau Wahl und sagt ohne viel Nachdruck: »Leg dich hin, Fritzi.«
    Aber ich sitze lieber auf dem Bettrand und tue, als ob ich läse. In regelmäßigen Abständen blättere ich Seiten um, damit mir niemand auf die Schliche kommt. In Wahrheit ist es mir zuwider, mich neben Olesia auszustrecken. Kaum habe ich die Augen geschlossen, male ich mir auch schon aus, wie sich ihre kalte dürre Hand aus dem Deckenbündel arbeitet und wie ein Schraubstock um meinen Hals legt. Die Vorstellung reicht, um mir den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Eine kleine Abwechslung nach all den Bildern von Piotr, immerhin.
    Olesias Hass auf uns ist abgrundtief und es ist mir ein Rätsel, wie Mutter darüber hinwegsehen kann. Denn der Hass trifft auch sie, davon bin ich überzeugt. Wenn der Feind mich aus dem Bus gezerrt und verschleppt hätte, ohne dass ich meiner Familie auch nur ein Lebenszeichen hätte zukommen lassen können, würde ich dasselbe empfinden, da könnte der Feind noch so fürsorglich um mich herumspringen.
    Ole sia tarnt ihren Hass mit einer wechselnden Folge von Tränen, Ohnmachtsanfällen, Bauch- oder Kopfschmerzen. Mutter hätschelt und bedauert sie und steckt ihr sogar das Fieberthermometer in den Mund, aber hat sie ihr je dabei in die Augen gesehen? Wahrscheinlich nicht, denn Olesia meidet ihren Blick. Nur bei mirgibt sie sich keine Mühe, weil sie gleich gemerkt hat, dass ich Bescheid weiß.
    Ich wünschte, ich könnte Olesia mit gleicher Inbrunst zurückhassen – dass mir das nicht gelingt, verleiht ihr eine gewisse Macht über mich. »Vorsicht! Mitleid macht schwach!«, pflegte Ellen zu sagen, womit sie zweifelsfrei Recht hat.
    »Hui!«, macht Herr Becker wieder. »Uff, habt ihr das gehört?«
    »Unter den Tisch, Fritzi!«, bestimmt Mutter in verändertem Ton, Widerrede brauche ich gar nicht zu

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