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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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Gelehrten, Fachleuten und Journalisten sie durch die Blume vorgebracht, aber niemand sich getraut hatte, sie vor der amtlichen Verlautbarung deutlich auszusprechen.
    Und jetzt, zurückblätternd, war es amüsant, Zeitung zu lesen, und es versteht sich, daß sich Menschen fanden, die es nicht einmal jetzt – obschon Auge in Auge mit dem kolossalen allgemeinen Unglück, das auch ihnen selbst drohte und dessen Ausgang man nicht kannte, dessen Natur und Ausmaße aber schon zu ahnen waren – über sich brachten, nicht zu sagen: „Das ahnen wir seit langem!“ – „Aha, was haben wir gesagt?!“ – „Als wir das sagten, wollte niemand uns glauben!“ – „Und jetzt“, fragten sie, „was jetzt?“
    In den Zeitungen indessen war tatsächlich schon vor etwa einem Monat geschrieben worden:
    „Der Schnee, der sich auch im Mai noch in solchen Mengen hielt, zeigt deutlich – ohne Rücksicht auf eine mögliche Wetterbesserung –, daß dieser Sommer bestenfalls so werden wird wie die kühlen und frischen Frühlingsmonate früherer Jahre …“
    „ Vielen erscheint die gegenwärtige Kälte seltsam und überraschend: Indessen, wer schon längere Zeit die klimatischen Bewegungen beobachtet hat, muß längst das ständige und charakteristische Absinken der Jahresdurchschnittstemperaturen der Erdatmosphäre bemerkt haben … .“
    „Frühere Zwischenfälle mit Schnee, die von Zeit zu Zeit zu Anfang, aber auch noch in der Mitte des Frühlings unsere Gegenden trafen, unterscheiden sich wesentlich von der jetzigen Abkühlung. Diesmal hat der Schnee sich mit einer verhältnismäßig dicken Schicht fast über die ganze nördliche Hemisphäre gelegt, sogar über Gebiete, in denen es nie, soweit man sich erinnert, Schnee gegeben hatte. Die Abkühlung hat selbst die südlichsten Enden des Mittelmeerraumes ergriffen, bis hin zum nördlichen Wendekreis, so daß man demnach nicht erwarten kann, daß von dort bald warme Strömungen durchdringen könnten. Es handelt sich also nicht um eine zufällige und vorübergehende Verschiebung, s ondern um eine ständige, gesetzmäßige Erscheinung und um eine besondere klimatische Zeitwende, die den Meteorologen, Geologen und Paläontologen aus der Vorgeschichte unseres Planeten gut bekannt ist …“
    Diesen Artikel hatte ein bekannter Gelehrter geschrieben, und er war in einer Tageszeitung erschienen, auf der Seite „Wissenschaft“ freilich, also an ziemlich unauffälliger Stelle, und doch hatte gerade er als erster unbefriedigende Reaktion und ernsthafte Erregung hervorgerufen. Man weiß nicht, was hierzu beigetragen hat. Vielleicht die polemische Einleitung, die von des Gelehrten Abweichung von den amtlichen Wettervorhersagen zeugte? Vielleicht der Umstand, daß er behauptete, die Wetterverschlechterung sei nicht vorübergehender Natur und könne länger anhalten? Aber möglicherweise gerade das von den Geologen, Paläontologen, der Zeitwende und der Vergangenheit unseres Planeten – was im großen und ganzen vermutlich mit den maßgebenden Meinungen übereinstimmte. Mit den Meinungen, nicht mit den Äußerungen – muß man unterstreichen –, und was wir heimlich denken und öffentlich auszusprechen nicht wagen oder nicht wollen, hören wir nicht gern von anderen ausgesprochen. Uns ist, als habe man uns den eigenen Gedanken entwendet, und es ist bekannt, daß Gedanken weder an Bäumen wachsen noch sich in der Tasche vermehren. Außerdem – warum sollte einem anderen erlaubt sein, was wir uns selbst aus verschiedenen Gründen, meistens aber in Ermangelung von Mut, vorenthalten? Und schließlich – was wäre das für eine Obrigkeit, wenn sie nicht das Recht hätte, als erste eine Meinung zu äußern, wo wir doch, wie bekannt, auch in der eigenen Familie den Kindern auftragen: „Schweigt, wenn der Vater spricht!“, also daheim auch das Recht auf das erste und das letzte Wort zu haben wünschen.
    Kurze Zeit danach waren die Redakteure vorsichtig geworden. Sie lasen ihre Rubriken und filzten aufmerksam die Manuskripte. Zu so kalter Zeit will niemand seinen Posten verlieren. Aber glücklicher- oder unglücklicherweise ist es so eingerichtet, daß Vorsicht nach einer gewissen Zeit zu verdampfen beginnt und, wie Alkohol, jeden Geschmack und Geruch verliert. Die Weichensteller überlassen sich wieder dem Gefühl sanfter Sicherheit, vergessen eines Tages, die Weiche umzustellen, und der Zug springt, versteht sich, aus den Schienen. Ein Unglück, würde man im Hinblick auf die zertrümmerten

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