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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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wandte man sich mehr drohend als anfragend an die Redaktion.
    „Was haben wir wieder verschuldet?“ verwunderten sich die Redakteure. „Was ist denn so ungünstig an dieser Meldung? Wir haben sie auf dem Funkwege verifiziert, sie stimmt, den jungen Leuten ist es tatsächlich gelungen, den Gletscher zu besteigen, und das ist in dieser Jahreszeit wirklich keine Kleinigkeit.“
    „Jetzt habt ihr das auch noch über den Äther verbreitet!“ stöhnte der am anderen Ende auf. „Gut, wir werden noch darüber reden!“ drohte er an, und zu seinem Kollegen sagte er, die Schultern zuckend: „Die scheinen absolut nichts begreifen zu wollen. Und es fällt ihnen weder ein, sich zu fragen, woher auf der Romanija ein Gletscher kommt, noch, was das bedeutet. Ist es möglich, daß die Redakteure unserer Zeitungen die uninformiertesten Menschen sind? Oder verstellen sie sich vielleicht und tun dümmer, als sie sind?“
    Einige Tage danach überschritt die Sache indessen jedes Maß. In der Rubrik „Gesellschaftliches Leben“ wurde alles vollmundig, offen und mit den gröbsten Worten ausgesprochen. Da hieß es:
    „… Der Direktor wies in einem fort alle Bitten ab, mit denen sich sein langjähriger enger und intimer Freund an ihn wandte. Was man von ihm verlangte, war in Wirklichkeit nicht Gott weiß was. Er brauchte womöglich nur eine der amtlichen und maßgebenden Persönlichkeiten anzurufen, ihr den ganzen Fall zu erklären und sie zu bitten, die Sache so schnell wie möglich zu erledigen. Oder ein Briefchen gleichen Inhalts zu schreiben. Das war alles gewesen. Es wurde also von ihm weder verlangt, für jemanden zu haften oder jemanden zu empfehlen, geschweige denn sich für jemanden einzusetzen. Dennoch wollte er nicht einmal das wenige tun, obwohl es sich tatsächlich um die Existenz eines Menschen handelte – und nicht einmal nur um seine eigene, sondern auch um diejenige seiner Frau.
    Vergebens. ,Er muß sich selbst irgendwie zurechtfinden!’ antwortete der Direktor auf alle Bitten und Bestürmungen. ,Ich kann ihm nicht helfen. Was weiß denn ich, was aus alldem werden und welche Unannehmlichkeiten daraus entstehen können. Im übrigen könnte ich bald in der Lage sein, für mich selbst etwas erbitten zu müssen, und dann würde es mir schwerfallen, mich abermals nach oben zu wenden. Was soll ich tun? Jeder ist mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Alle hüten ihre eigene Haut und schauen auf ihr eigenes Interesse. So ist die Zeit nun einmal geworden: kalt, roh und rücksichtslos. Eiszeit! Eine richtige Eiszeit, in der jeder seine eigene Wärme für sich behält. In der jeder seinen Hauch nur auf die eigene Haut lenkt, sich um niemanden kümmert und von niemandes Leid etwas wissen will.’“
    „Was für Zeiten!“ kommentierte das Blatt. „Sind wir tatsächlich so sehr von innen abgekühlt, verhärtet und vereist wie verloschene Sterne, daß wir unempfindlich, steif und rücksichtslos geworden sind? Sind tatsächlich alle menschlichen Empfindungen in uns abgestorben? Hat tatsächlich der gröbste, roheste, kalte, berechnende, auf Selbsterhaltung beschränkte Egoismus die Oberhand gewonnen? Und befinden wir uns nicht vielleicht tatsächlich schon in einer Eiszeit? In einer echten Eiszeit?“
    Dieser ganze unglückliche Artikel war weder sehr angenehm noch sehr angebracht und klug. Aber er war wenigstens mit einer großen Zahl von Ausrufungszeichen versehen – womit er unter Beweis stellte, daß es sich um eine Art freien literarischen Text handelte, die man weder buchstäblich auffassen noch allzu ernst nehmen soll. Darum kam er auch noch irgendwie durch. Nur daß eben den Redakteuren alles das nicht genügte: Wie um Trotz zu bieten, fügten sie am Schluß des Artikels noch die eigene Zeile hinzu:

    IN DER EISZEIT

    Mit den gleichen, fettgedruckten Worten überschrieben sie auch den Artikel und rahmten ihn mit einem Muster ein, das an Eiszapfen erinnerte. Und das war zuviel.
    Es folgten ein paar dringende Anrufe, der Professor Liebling wurde konsultiert – und dann die gesamte Ausgabe des Blattes in den Kiosken und aus den Händen der Leser beschlagnahmt und alles in einem großen Ofen verbrannt; und wer gerade in der Nähe war, konnte sich bei der Gelegenheit fein erwärmen und zufrieden die verfrorenen, steifen Hände reiben. Der Meteorologe Liebling zog sogar den Mantel aus und hielt Rücken und Kreuz den Flammen hin – so warm und angenehm war es.
    „Dummheiten!“ sagten sie. „Was heißt hier

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