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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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die Leute sich: Was ist das, Eiszeit? Ist das genau jene richtige Eiszeit, von der man in der Schule gelernt hat, oder eine andere, eine im übertragenen, symbolischen Sinne? Wie lang wird sie anhalten – ein, zwei oder vielleicht auch ganze drei Jahre? Wird es während dieser Eiszeit auch wirklich sehr kalt sein, und was alles kann uns da erwarten, besser gesagt: betreffen?
    Der Reihe nach erschienen an die zehn der Eiszeit gewidmete Bücher, und schnellen Absatz fanden auch alle die Werke, die sich mit den Erforschern des Nord- und des Südpols befaßten: mit Nansen, Amundsen, Scott und Ross. Alle dicken Bücher mit festen Einbänden wurden verlangt, ohne Rücksicht darauf, wovon sie handelten, aber die Verkaufsliste wurde doch von solchen angeführt, die sich mit Leben und Gebräuchen der Eskimos, der Lappen, Sibirier und mit den Bewohnern des Feuerlands beschäftigten und mit anderen, von ewigem Schnee und Eis bedeckten Hochgebirgslandschaften auf der Erdkugel. Die Studenten, aber auch gewöhnliche Bürger begannen sich plötzlich für die von ihnen bisher vernachlässigte und übersehene Arbeit der Paläontologen, Klimatologen und Archäologen zu interessieren, und wahrscheinlich in Verbindung damit belebten sich die früher stets leeren, verstaubten und langweiligen Säle für Naturkunde und Vorgeschichte in den Museen. Auf die eine oder andere Weise wurde die Eiszeit zum Inhalt fast aller Vorträge, angefangen von der Volkshochschule im Zentrum der Stadt bis zu den Veranstaltungen gewerkschaftlicher Organisationen in den Stadtbezirken, Straßenvierteln oder Wohnblocks.
    Aus allem, was über die Eiszeit gesagt oder geschrieben wurde, konnte herausgelesen werden, daß sie nicht die erste war – daß dieses Land solche bleichen Liebhaber schon öfters hatte über sich ergehen lassen müssen. Nur hatten wir Menschen, eingebildet und eitel befangen von uns selbst und unseren kleinen Erfolgen, das vergessen und geglaubt, die ersten und einzigen, unangefochtenen und uneingeschränkten Herren des Landes und seines und unseres eigenen Schicksals zu sein, fähig und bereit, auch noch das All zu erobern. Außerordentliche Bewegung indessen rief ein Journalist hervor, der, in Antiquariaten nach Sensationen wühlend, ein verstaubtes, schon vergilbtes, dreißig und mehr Jahre altes Buch entdeckte, mit dessen Inhalt er mehrere Ausgaben seiner Zeitung füllte. „Wie hätten wir die Eiszeit vor mehr als zwanzigtausend Jahren nicht vergessen sollen“, fragte der Journalist, „wenn es uns gelungen ist, die wissenschaftliche Arbeit unseres hervorragenden Forschers zu vergessen, mit der er sich vor erst knapp drei Jahrzehnten Ruhm in der Welt erworben hat?“
    Es zeigte sich also, daß die uns nächste Eiszeit vor beiläufig 20 000 Jahren gewesen war. Die dieser vorausgegangene vor 70 000, vor dieser eine vor 115 000 Jahren. Und so weiter – von Kältewelle zu Kältewelle immer tiefer in die Vorgeschichte der Erde zurück, bis zu jener kältesten und eisigsten Zeit vor genau 650 000 Jahren.
    „Das war, wie schon der Name sagt, eine schreckliche Zeit“, wurde in dem Buch behauptet. „Auf den Gipfeln der Berge, die höher waren als heute, leuchtete ewiger Schnee. Anfangs unmerklich, dann immer auffallender begann dieser Schnee sein Reich zu erweitern und seine Grenzen, den Gebirgshängen entlang, immer weiter nach unten zu verschieben. Die Sommer wurden kürzer und kühler, die Gletscher überwucherten die Täler, eroberten und verschütteten eines nach dem anderen, verbreiteten Kälte um sich und vernichteten die Vegetation.
    In tausendjährigem Vormarsch bedeckten sie sämtliche Alpen. Das nördliche Europa, die gesamte Skandinavische Halbinsel, das heutige England, Dänemark, Teile von Deutschland und Rußland und ein großer Teil Nordamerikas lagen unter einer mindestens eintausend Meter dicken Schnee- und Eisschicht. Es sah aus, als solle die ganze Erdkugel erfrieren.“
    Es wurde behauptet, unser tüchtiger Forscher habe auch einen Kalender dieser Verschiebungen ausgearbeitet, mit dessen Hilfe die nächste Kältewelle auszurechnen und die Ankunft der jetzigen Eiszeit vorauszusehen gewesen wäre – wenn nur jemand einen Blick in dieses Buch hätte werfen wollen. Aber – wer liest denn noch Bücher? Und wer kümmert sich um ihre Lehren? Dadurch würde es uns vielleicht nicht leichter, aber doch wenigstens erträglicher werden. Wenn nichts anderes, hätten wir uns wenigstens seelisch besser vorbereitet. Wir hätten

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