Eis
der und der ist erfroren, und wir ziehn nur die Brauen hoch: So? sagen wir; er war ja schon alt und kränkelte seit längerer Zeit; als ich ihn zum letztenmal traf, sah er schlecht aus, ich wußte, daß er’s nicht mehr lang machen würde … Der eine zuckte die Schulter: Was willst du – das erwartet uns alle … Der andere wurde ganz einfach zornig: Was treiben denn diese Leute, warum passen sie nicht besser auf? Und wir regten uns nicht besonders auf. Nur die allernächsten Angehörigen gaben ihren Toten das Geleit, aber auch sie kalt und ruhig, um nicht weinen zu müssen – was außerordentlich gefährlich gewesen wäre, denn die Tränen gefroren sofort und drohten die Augen aus ihren Höhlen zu drücken.
Herr Kreki ć , in eine Decke gehüllt, saß in seinem tie fen, wattegefütterten Fauteuil und las die Namen der Erfrorenen vom Vortage: „Antić, Baschi ć , Blazevi ć …“
Seine Frau hatte sich in der Nähe des Fensters niedergelassen und betrachtete ihre Hände. Sie antwortete nicht.
„Kennst du sie? Bakotić, Brković, Vasić, Vekić …“
„Nein, woher denn? Nie gehört.“
„Mein Gott, wieviel unbekannte Leute! Vujić, Gavrić, Gajić, Grujić, Damjanović … Nicht einmal geahnt hab ich, daß es soviel Menschen gibt. Deanović, Dokić, Drakić, Eraković … Übrigens kein Wunder: Es gab ihrer zu viele. Was treibst du dort den ganzen Tag?“
„Nichts, ich schau mir meine Fingernägel an. Ich kann mich nicht entschließen.“
„Zarković, Zunić … Was haben deine Fingernägel damit zu tun? Wozu kannst du dich nicht entschließen? Zarić, Zekić, Zonić … Alle ohne Berufsangabe. Nur lauter Unbekannte. Daß der Mensch sich fragen möchte, warum das überhaupt gelebt hat. Ob die sich das selbst auch mal gefragt haben?“
„Das glaub ich nicht – wie hätten sie sonst so lang leben können. Meine Fingernägel sind sehr lang geworden, aber ich kann mich nicht entschließen, sie abzuschneiden. Wie die Zeit ist, werde ich sie vielleicht noch brauchen können.“
„Janković Milan … Mir scheint, den hab ich gekannt. Irgendein Abteilungsleiter in irgendeinem Ministerium. Keinerlei Schaden. Und auch kein Verlust.“
„Gut“, sagte die Frau. „Ich hab mich entschlossen, sie doch stehn zu lassen. Sie können mir in der Eiszeit nützlich sein. Und du – wie lang willst du das mit dieser Liste noch treiben?“
„Warum nicht? Das sind jetzt die interessantesten Nachrichten. Du siehst, es gibt keine Kreuzworträtsel mehr; nur das hier könnte sie ersetzen. Kati ć Duschan, Luki ć Stevan, Zeitungsschreiberling, Manojlovi ć Tadija, irgend so ein Universitätswurm … Ninković Darinka …“
„Dara?! Was ist mit ihr?“
„Ins Krankenhaus gebracht – beide Beine erfroren.“
Die Frau schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen genau an. „Duschko!“ schrie sie auf. „Duschko, um Gottes willen!“ Das Manikürzeug fiel ihr dabei aus dem Schoß und schlug mit metallischem, eisigem Klang auf den Fußboden auf.
„Was ist denn los? Warum regst du dich so auf? Recht ist ihr geschehen. Ständig hat sie ihre Beine hochgehoben, entblößt und vorgezeigt. Das hätt sie nicht in dem Maße machen sollen. Im übrigen ist das auch für dich eine Mahnung: Es ist nicht gut, zu oft den Mund aufzumachen und die Zunge zu zeigen. Sie könnte dir abfrieren.“
Aber die Frau hörte ihm nicht mehr zu. Sie erhob sich und kam, ihn scharf musternd, näher, immer noch die Schere in der Hand, als suche sie etwas in seinem Gesicht und als wolle sie ihm mit der Schere etwas tun. Er hatte Angst, sie könnte ihm die Augen ausstechen, und hob die Hände vor das Gesicht. Er spürte unter den Händen etwas Kaltes, das fremd, hart und wie ein Stück Eis zwischen den Wangen herausragte.
„Die Nase!“ schrie die Frau. „Die Nase! Sie ist dir schon ganz weiß!“ Und während er sich wehrte und noch nicht begriff, was geschehen war, fuhr sie fort: „Laß, du Dummkopf! Laß mich, daß ich sie dir reibe. Das kommt daher, daß du sie überall hineinsteckst und so vorschiebst.“
Während die beiden sich balgten, glitt die Zeitung aus Krekićs Schoß und fiel zu Boden. So kamen sie nicht dazu, zu lesen, was am Schluß des Blattes stand. Eine kleine Notiz, in der bekanntgegeben wurde, daß die Zahl der Sterbefälle in diesem Monat den Durchschnitt der letzten fünfzig Jahre überschritten habe. Der Verfasser stellte die Frage: „Was werden wir mit den Leichen anfangen, wenn die Todesfälle weiterhin in diesem
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