Eis
Tempo und in diesem Ausmaß anwachsen?“
Und tatsächlich – seit einiger Zeit stellten auch andere Leute sich diese Frage.
Der Schnee lag hoch, die Erde darunter war so hart gefroren, daß es schwer war, sie aufzugraben, und fast unmöglich, genügend Gruben für eine derartige Zahl von Leichen auszuheben. Abermals machte jemand in der Öffentlichkeit den Vorschlag, ein Krematorium einzurichten, doch tauchten sofort auch gegenteilige Meinungen auf, und so wurde aus diesem Vorschlag auch diesmal nichts. „Wer wird in dieser Zeit soviel teure und knappe Kohle für die Toten verbrauchen, wenn es nicht einmal für die Lebenden genug gibt“, sagten die einen. Die anderen meinten, es wäre recht und billig, wenn diejenigen, die im Leben so viel gefroren hatten, sich wenigstens im Tod einmal für zehn Minuten tüchtig erwärmen könnten. „Diese Perspektive vor Augen, würde für viele das Sterben leichter, sogar schöner werden“, behaupteten sie. Es wurde vorgeschlagen, die Leiber der Toten hinauszutragen vor die Stadt und sie den wilden Tieren auszusetzen – nach dem Vorbild verschiedener religiöser Sekten in Indien, die mit ihren Toten die Vögel des Himmels ernähren. Indessen, es erwies sich, daß das eine gefährliche Sache war. Die Raubtiere – die sich ohnehin schon um die Stadt herum angesammelt hatten – wurden an Menschenfleisch gewöhnt, und es stellte sich heraus, daß auch sie warmes und frisches Fleisch bevorzugten, und so fielen sie lieber über diejenigen her, die ihnen die Leichen brachten, als über die Leichen selbst. Sie fingen schon die Straßen unsicher zu machen an, so daß man diesen Versuch bald wieder aufgab.
Die Lösung wurde in Wirklichkeit ganz zufällig gefunden – wie meistens, wenn es sich um große und bedeutende Entdeckungen handelt. Die Stadtverwaltung hatte nicht genügend Hundegespanne, um die Toten immer sofort und rechtzeitig auf den Friedhof schaffen zu können. „Kein Wunder“, schimpften die Bürger, „unsere Stadtverwaltung hat es noch niemals fertiggebracht, den Verkehr der Lebendigen zu regeln, wie soll sie das jetzt für die Toten fertigbringen.“ Und tatsächlich – die Leichen wurden immer erst nach einigen Tagen abgeholt, und da es ihrer immer mehr gab, fingen sie sich in den Häusern zu häufen an. Allerdings waren es stille, friedliche, vollkommen tote Leichen, die bescheiden und unaufdringlich auf ihren Plätzen lagen, ohne sich zu blähen, ohne zu verfallen und ohne zu stinken. Sie waren vollständigkalt und bereiteten ihren lebenden Mitbürgern keine Schwierigkeiten. Sie konnten also ruhig warten, bis endlich die Reihe an sie kam; geduldiger als ihre lebendigen Verwandten und Freunde. Und dennoch – damit sie die Blicke ihrer Nächsten nicht allzusehr störten, wurden sie in den Keller oder auf den Hof hinausgetragen, dorthin, wo früher die Mülltonnen gestanden hatten, und, damit die Ratten sie nicht anfielen, mit Wasser begossen, das um sie herum sofort zu Eis erstarrte. Auf diese Weise konserviert, warteten sie ab, bis man sie auf den Friedhof brachte.
Das gab dann auch die Idee ein, wie das Problem zu lösen wäre. Wozu die Toten unter der Erde bestatten? Es ist Eiszeit – das Eis, das sie umgibt, wird nicht so bald schmelzen. Demnach besteht keine Gefahr, sie könnten zu Vampiren werden oder auf sonst eine unangenehme Weise an sich erinnern und das fröhliche und schöne Leben der Lebendigen stören. Es genügt, sie aus dem Hause zu schaffen und in ihren Eissärgen auf den Feldern, nach Parzellen und Nummern geordnet, aneinanderzureihen. Auf diese Weise kann man mit weniger Mühe und weniger Unkosten das erreichen, was jahrhundertelang die ägyptischen und verschiedene andere Pharaone angestrebt haben, was aber in Wahrheit immer nur echten, ausnehmenden, besonders großen Gläubigen gelang, die dann später zu Heiligen ernannt wurden. Die Toten werden besser konserviert sein und sich in ihren Eissärgen besser halten als irgendein Heiliger bisher. Und ihre Angehörigen – wenn die schon den Wunsch haben sollten, sie auf dem Friedhof zu besuchen – werden sie da liegen sehen, als wenn sie lebten. Sie werden nicht jammern, wehklagen und weinen müssen – die da im Eis werden es gut haben, vielleicht besser als die Lebenden selbst. Zufrieden werden sie daliegen und zuschauen, wie ihre Besucher sich in die kalten Hände hauchen und vor Kälte auf der Stelle trippeln, um ihre halb erfrorenen Füße zu erwärmen. Der Vorschlag war derart
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