Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
Vom Netzwerk:
nützlich, daß man alle seine Vorzüge leicht einsehen konnte. Die Stadtverwaltung beeilte sich sogar, für die Toten wie für die Lebenden noch ein bißchen mehr zu tun: den einen wie den anderen stellte sie die großen Räumlichkeiten des Kühlhauses zur Verfügung, das in der gegenwärtigen Situation zu nichts mehr nutze war, und danach auch die Pavillons auf dem Messegelände, um den Lebenden wie den Toten einen erstklassigen Komfort zu sichern. Wie Bücher und Akten in Bibliotheken oder Archiven, so werden die Leichen, eine jede unter ihrem vollen Namen und einer laufenden Nummer, in Magazinen und Großbehältern aufbewahrt und in einen besonderen, auf entsprechende Weise eingerichteten Raum gefahren werden, wo ihre Freunde und Verwandten, in Fauteuils sitzend und entsprechende Musik hörend, sie betrachten können, und die Toten werden vor ihnen in ihren besten Kleidern erscheinen und mit sämtlichen Goldzähnen im Mund, die ihnen niemand wird unbemerkt entwenden können.
    Der Vorschlag wurde tatsächlich gleich auf der ersten Sitzung des Stadtrates angenommen. Das Problem der Toten war gelöst. Wir konnten uns ihm gegenüber kühl verhalten. In ihren Eissärgen werden die Toten Tausende von Jahren ungestört ruhen, und erst ein in weiter Ferne liegendes warmes Zeitalter wird vielleicht wieder ihre Ruhe stören können.
    Aber wo ist dieses Zeitalter? Vorerst liegt überall um uns her – Eis.

    Bei Herbstbeginn, dem kalendermäßigen, versteht sich, wuchs die Zahl der Eingefrorenen in irgendeiner eisigen, egal ob arithmetischen oder geometrischen Progression an, und nach allen Anzeichen zu schließen, würde sie sich schon zu Beginn des kommenden Monats verdreifacht haben.
    Noch verhielten wir uns diesem Problem gegenüber kühl. Hätte es zu dieser Zeit Zeitungen gegeben, wäre in ihnen gewiß die bekannte Formel aufgetaucht: ,Kein Grund zu Besorgnis’. So aber kam man bei den selten gewordenen Sitzungen der Ärztegesellschaft zu dem gleichen Schluß. Schließlich, so wurde gesagt, kann man die Sprache der Zahlen erst richtig verstehen, wenn man sie über Jahrzehnte verfolgt. Erst dann kann man echte Tendenzen feststellen, und was jetzt geschieht, kann auch nur ein Zufall sein. So etwas wie eine Grippeepidemie. Vielleicht ist eine neuartige Krankheit aufgetaucht, wie seinerzeit Polio und Krebs, und wenn sie vorbei ist, fließen die Wasser wieder im alten Flußbett weiter. Im übrigen – was würde die Medizin machen, wenn nicht wenigstens von Zeit zu Zeit neue Krankheiten ausbrächen? Diese hier, wenn man alles in Betracht zieht, hat noch nicht im entferntesten soviel Opfer gekostet wie zum Beispiel das Spanische Fieber, zu schweigen von Pest und Cholera, von den zwei heißen letzten Kriegen oder den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Die Medizin wird schon irgendein Mittel entdecken, oder, was wahrscheinlicher ist, die Zeit selbst wird uns die Lösung auf dem Tablett präsentieren. Wir werden uns den neuen Lebensbedingungen anpassen und uns an Schnee und Kälte gewöhnen.
    Schließlich, so sagten einige, ist das vielleicht sogar gut. Die Menschheit hat sich in letzter Zeit derart schnell vermehrt, daß die ernste Gefahr bestand, sie könnte bald die ganze Erde verseuchen. Schon jetzt konnte man von ihr nirgendwohin flüchten. Nicht einmal in der Natur konnte man sich mehr irgendwohin zurückziehn, ohne auf Abfälle der Menschen zu treten oder den Blicken der Menschen ausgesetzt zu sein. Wir vermehren uns derart, daß wir bald kaum noch Platz zum Stehen hätten, und sei es auch nur auf einem Bein. „Wenigstens wird man der gelben Gefahr entgegentreten“, sprachen die anderen. „Die weiße Rasse wird gerettet werden, die während einer Eiszeit entstanden ist; wie die Eisbären und die weißen Polarfüchse ist auch sie ein Kind von Weiß. Wir alle werden jetzt reinrassig nordisch werden und uns vor allerlei farbigen Gefahren in Sicherheit bringen, die uns schon in hohem Maß bedrohten“, behaupteten die Eugeniker. Diejenigen jedoch, die sich in diesen Tagen etwas aufmerksamer im Spiegel betrachteten, fuhren überrascht zusammen. „Wir werden behaarter!“ sprachen sie und strichen mit der Hand über den noch dünnen Flaum, der sich überall gebildet hatte, auf Wangen, Stirn, Hals und anderen früher unbewachsenen Körperteilen. „Was ist das und was geschieht da mit uns?“ fragten sie sich besorgt. „In was verwandeln wir uns da wieder?“
    „Wieviel Menschen haben auf unserem Territorium

Weitere Kostenlose Bücher