Eis und Wasser, Wasser und Eis
freizulegen und mit der Pinzette herauszuholen. Plötzlich durchströmt seinen Körper wohlige Wärme. Warum hat er sich Sorgen gemacht? Er kann das doch.
»Was für ein Mistglas, das da zerbrochen ist«, sagt er mit verhaltener Stimme.
Niemand antwortet. Vielleicht ist Ola in seiner Ecke eingeschlafen. Anders wirft einen schnellen Blick in seine Richtung und ist verblüfft. Ola ist weg. Er ist fortgegangen. Vielleicht hat es ihn tiefer verletzt, hässlich genannt zu werden, als Anders gedacht hat. Einen Moment lang regt sich das schlechte Gewissen in seinen Eingeweiden. Ola ist doch gar nicht hässlich. Im Gegenteil. Er ist ein richtig ansehnlicher Matrose Mitte dreißig, dunkel und muskulös, auf jeden Fall viel ansehnlicher als Robert, wie er hier auf der Pritsche liegt, mit seinem langen grauen Haar, zerzaust und strähnig, und mit einem Gesicht, das einem runzligen Alten gehören könnte. Anders hätte vielleicht etwas sagen sollen, als Robert so herumfluchte. Andererseits ist es nicht gerade seine Aufgabe, alle bei guter Laune zu halten, sondern vielmehr, dafür zu sorgen, dass Robert nicht mehr als nötig in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sein wird. Er beugt sich tiefer über die Wunde und mustert sie genau, säubert sie noch einmal mit Kochsalzlösung und schiebt die Lampe zurecht, damit er besser sehen kann.
»Brauchst du Hilfe?«
Das ist Ulrika. Obwohl er mit dem Rücken zur Tür sitzt, meint er dennoch sehen zu können, wie sie sich gegen den Türpfosten lehnt. Dunkel, mit braunen Augen. Blasse Erinnerung an Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Klare Augen. Schwere Brust. Er wirft kurz einen Blick über die Schulter.
»Ja bitte. Das wäre nicht schlecht.«
»Was soll ich tun?«
»Zieh dir ein Paar Handschuhe an und hilf mir, seine Hand zu halten. Ich komme nicht richtig ran.«
Sie findet die Packung mit den Plastikhandschuhen, ohne suchen oder fragen zu müssen, zieht mit verblüffender Routine ein Paar über und lässt sich dann an Anders’ Seite nieder.
»Wie soll ich sie halten?«
»Wenn du sie ein bisschen aufdrehen könntest, dann komme ich hier an die Seite …«
Er fasst die Wundränder und drückt, die Wunde öffnet sich wie ein erstaunter Mund. Eine dreieckige kleine Scherbe verbirgt sich dort tief drinnen. Die hätte er ohne Ulrikas Hilfe niemals entdeckt.
»Wie konnte das passieren?«, fragt Ulrika leise. »Hat er die Hand in die Scherben gedrückt?«
Anders packt die kleine Scherbe mit der Pinzette und lässt sie in die Schale fallen, beugt sich wieder über die Wunde und sucht nach den Sehnen und den Sehnenscheiden.
»Keine Ahnung.«
Ulrika macht eine kleine Bewegung, als ob es ihr unangenehm wäre, er spürt das, auch wenn er es nicht sieht.
»Oje. Er scheint nichts zu spüren.«
Anders erwidert nichts. Beugt sich nur über die Wunde und lässt sie aufklappen, säubert sie noch einmal und stochert vorsichtig mit der Pinzette. Sieht er die Sehne? Ja, da ist sie. Zumindest die eine Seite. Er nickt schweigend und setzt sich zurecht.
»Kannst du hier drücken?«, fragt er und zeigt.
Ulrike gibt keine Antwort, nickt nur und tut, was von ihr gewünscht wird. Anders sucht ein wenig mit der Pinzette in der Wunde und findet das andere Ende der Sehne. Jetzt kommt es darauf an. Er zieht sie hervor und lässt die Nadel eindringen. Roberts kleiner Finger krümmt sich, er schlägt die Augen auf.
»Scheiße, was machst du?«, fragt er. Dann schließt er schnell wieder die Augen.
Anders seufzt. Zeit für eine neue Betäubung.
Eine Stunde später steht er allein auf dem Vordeck. Der Abend ist nasskalt und diesig, aber der Wind hat sich gelegt. Das Schiff schaukelt nicht mehr so stark wie vorher, und keine riesigen Wasserkaskaden schlagen über den Bug. Außerhalb des Fahrzeugs ist die Welt grau geworden: Die Wolken hängen tief, das Meer glänzt wie geschmolzenes Metall, ein paar vereinzelte Schollen grauweißen Eises treiben vorbei. Am Horizont ist ein Schatten zu erahnen. Eine Wolke vielleicht. Schwer von Schnee.
Ulrika sitzt jetzt bei Robert, und dort bleibt sie sitzen, bis Anders zurück ist. Sie haben einander geholfen, ihn in sitzende Stellung zu bekommen, haben jeder einen Arm um ihn gelegt, ihn so in Anders’ Schlafkajüte gebracht und ihn dort in das Krankenbett gelegt, das frisch bezogen und bereit neben seiner eigenen Koje steht, seit er an Bord gegangen ist. Nicht wegen der Wunde, die hat aufgehört zu bluten, und schon gar nicht aus dem Grund, weil Robert so
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