Eis und Wasser, Wasser und Eis
wollte keinerlei Risiko eingehen. Dann hob sie Elsies Mantel und Hut vom Boden auf, nahm Schuhe und Überschuhe in die andere Hand und ging damit auf den Flur hinaus. Als sie zurückkam, war der Junge wieder eingeschlafen, sie wickelte ihm die blaue Baumwolldecke um die bloßen Beinchen und setzte sich dann zu ihrer Schwester auf die Bettkante.
»Also«, sagte sie leise. »Was genau willst du nicht?«
Unter dem Kissen war ein Gemurmel zu hören.
»Ich verstehe nicht«, sagte Inez. »Nimm das Kissen weg.«
Elsie zog das Kissen vom Mund, bedeckte aber immer noch ihre Augen damit.
»Ich will ihn nicht haben«, sagte sie. »Ich will ihn einfach nicht haben.«
»Aber ich will ihn haben«, sagte Inez.
Elsie zog das Kissen ganz weg und sah sie an.
»Er gehört dir nicht.«
»Das weiß ich. Aber ich will ihn haben.«
»Du spinnst ja«, sagte Elsie und verbarg erneut ihr Gesicht.
Das war das längste Gespräch, das sie seit fast einem Jahr geführt hatten.
Er stand am Zaun und schaute zu den Sternen hinauf. Zitterte ein wenig.
Der Dufflecoat war offen, und er spürte, wie ihm die kalte Luft unter den Pullover kroch, trotzdem knöpfte er ihn nicht zu. Die Finger waren steif, aber das war auch gleich, denn er hatte nicht vor, sie zu bewegen. Er wollte nur noch eine Weile unter den Sternen stehen bleiben. Ganz still. Ganz allein. Ganz ohne ein Wort.
Aber die Worte ließen sich nicht auslöschen. Sie blitzten in seinem Bewusstsein auf, erstrahlten, funkelten und erloschen wieder. Frei. Frieden. Ewigkeit. Er schüttelte leicht den Kopf, um sie zu vertreiben, aber es half nichts. Das lange Haar berührte seine Wangen, streichelte sie. Ewig. Frieden. Freiheit. Vielleicht wurde er ja gläubig. Oder verrückt.
Er senkte den Blick und schaute sich um. Die Worte waren erloschen, aber immer noch gab es etwas in der Dunkelheit, in der Stille um ihn her, das nicht gestört werden durfte. Er wollte die Pforte nicht öffnen, ihr Quietschen nicht hören. Er wollte nicht den Weg zum Haus gehen, nicht seine eigenen Schritte über den Kies knirschen hören.
Deshalb glitt er ganz vorsichtig über den Zaun in den Garten. Seine groben Schuhe – Sohlen wie Traktorreifen – hinterließen schwarze Spuren auf dem weißen Gras. Er blieb stehen und betrachtete sie im Schein der Straßenlaterne draußen, sah, wie schnell sich das heruntergetretene Gras wieder aufrichtete und wie schnell der Frost es wieder weiß färbte. Als wäre er niemals hier gegangen. Als gäbe es ihn gar nicht.
Er schmunzelte vor sich hin, während er den Dufflecoat enger um den Körper zog. Es gab ihn. Selten war er dieser Sache sicherer gewesen als heute Nacht. Vielleicht würde es ihn ewig geben.
Warten
Eine zerschnittene Hand. Natürlich. Ganz nach dem Gesetz, dass immer das Schlimmste eintritt.
Hände, das ist nichts, was man mal eben so zusammenflickt. Zu Hause in der Notaufnahme hätte Anders es gar nicht erst versucht, er hätte nur die Blutung gestillt und dann zugesehen, dass der Patient schneller bei einem Handchirurgen landete, als er seine Personenkennziffer herunterleiern konnte. In dem Bereich herumzuwühlen, der die für den manuellen Bewegungsapparat eines Menschen notwendigen empfindlichsten Teile enthält, gehört nicht einmal zum Alltag eines normalen Chirurgen. Die Handchirurgen haben ihre eigene Station im Universitätskrankenhaus, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Konferenzen, sie sind Mikrochirurgen und Spezialisten und würden eine Person wie Anders Jansson als kaum qualifizierter ansehen als irgendeinen Pfadfinder. Andererseits herrscht starker Mangel an Handchirurgen im Nördlichen Eismeer, und ein Hubschraubertransport nach Kanada kostet fünfundzwanzigtausend die Stunde. Mindestens. Das kommt nur in Frage, wenn es um Leben oder Tod geht.
Und hier geht es nicht um Leben oder Tod. Sondern um den Erhalt der Beweglichkeit der rechten Hand.
Robert hält endlich den Mund und hat die Augen geschlossen, er liegt reglos auf der grünen Pritsche und atmet ruhig. Der erste Schock scheint vorüber zu sein, und die Betäubung beginnt wohl zu wirken. Außerdem tut der Alkohol sicher das Seine. Es hat sich herausgestellt, dass Robert betrunkener war, als es den Anschein hatte, er hing schwer zwischen Ola und Anders, als sie ihn halb stützend, halb tragend zur Krankenstation transportierten, aber da war er jedenfalls noch still. Erst als sie ihn endlich auf die Pritsche bugsiert hatten und er seine eigene blutige Hand herunterbaumeln sah,
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