Eis und Wasser, Wasser und Eis
Die schwarzen Wimpern, die einen Schatten auf seine Wangen warfen. Die fein gezeichneten Lippen.
Ohne nachzudenken, beugte sie sich über ihn und küsste den halb geöffneten Mund. Sein Speichel schmeckte wie Quellwasser. Nein. Sie änderte sofort ihre Meinung: Sein Speichel schmeckte wie der Traum eines Menschen von Quellwasser. Es gab keine Quelle auf der ganzen Welt, die so ein Wasser hervorbringen konnte …
Er schlug die Augen auf und schaute sie mit dunkelblauem Porzellanblick an, schrie nicht, bewegte sich nicht, er lag nur reglos auf ihrem Bett, die Arme und Beine in der Art der Säuglinge angezogen, und sah sie an. Sie strich ihm vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Wange. Er war so klein. Nie zuvor hatte sie einen so kleinen Menschen aus nächster Nähe gesehen, und nie zuvor einen so vollkommenen.
Plötzlich wollte sie einfach nur weinen. Sie schniefte und versuchte die Tränen wegzublinzeln – das war ja lächerlich, sie konnte doch nicht hier sitzen und heulen –, aber es nutzte nichts. Schnell suchte sie im Ärmel ihres Pullovers nach dem Taschentuch, putzte sich vernehmlich die Nase und erinnerte sich selbst daran, dass sie erst vor einer Woche in ihr Tagebuch einen langen Sermon über die Wörter geschrieben hatte, die sie am meisten verabscheute, all die Wörter, die mit »Sen« anfingen. »Sensation« zum Beispiel. Sensationen waren nichts anderes als Naschereien für Tratschmäuler, Leute, die sich hechelnd und die Augen verdrehend stundenlang das Maul zerreißen konnten über Dinge, die sie gar nichts angingen. Und in dieser Stadt, in dieser armseligen kleinen Stadt, in der sie unglücklicherweise gelandet war, würzten die Klatschmäuler ihre Kommentare voller Begeisterung mit triefender Sentimentalität. Diese armen Mädchen, die unglücklicherweise ihren Vater verloren hatten … Und die arme Witwe, deren Tochter auch noch in dieses Unglück geraten war! Wie schrecklich, wie schrecklich! Oje, oje! Ganz zu schweigen von dem Wort »sensibel«, das ständig zwischen den Mädchen in der Abschlussklasse hin und her flog. Alle sollten jetzt sensibel sein, halb blind und sensibel, dazu noch sensuell und sinnlich, denn alle wollten natürlich den Pony so über einem Auge hängend tragen wie Rita Hayworth, als sie Gilda spielte, auch wenn das bedeutete, dass sie sich in ihrer Umgebung vortasten mussten. Und wenn das nicht genügte, dann musste man sich auch noch die ganze Zeit lüstern benehmen. Die albernsten Mädchen waren durchaus in der Lage, geschult lasziv zu seufzen, ganz gleich, ob sie nun über lateinische Verben oder Rübenmus mit Eisbein redeten. Ganz zu schweigen davon, wie sie sich aufführten, wenn die Rede auf Jungen kam. Sie waren verliiiebt!!! Sie liiiebten!!! Alle, bis auf Inez. Und so sollte es bleiben. Sie hatte sich geschworen, sich selbst an dem Tag ins Bein zu beißen – und gelenkig genug war sie dazu, das wusste sie, sie hatte es sogar probiert –, an dem sie selbst anfangen würde, sich etwas aus Sensationen, Sentimentalität und Sensibilität zu machen. Obwohl die Gefahr nicht besonders groß war. Sie war achtzehn Jahre und acht Monate alt, war mit einem Jungen zusammen, der Birger hieß, und war vor ihm mit ein paar anderen Jungen zusammen gewesen, aber bis jetzt war sie noch nie verliebt gewesen. Bis jetzt. Wieder putzte sie sich die Nase. Doch. Leider. Sie musste es zugeben. Sie hatte sich verliebt. Sie liebte. Und derjenige, den sie liebte, das war ein Junge von drei Monaten, ein kleines Wesen mit gestricktem Windelhöschen und einer hellblauen Socke an dem einen Fuß. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, tastete sie mit der Hand nach dem anderen Strumpf, fand ihn und zog ihn vorsichtig an, band das dünne Seidenband zu einer ordentlichen Schleife und seufzte. Das war es, was sie von dem Leben wollte. Nur das. Nichts sonst. Obwohl das nicht bedeutete – das schwor sie sich, während sie sich noch einmal die Nase putzte –, dass sie vorhatte, sensationell, sentimental oder sensibel zu werden.
Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Schwester. Das schau sich einer an! So ging es einem, wenn man seine Vernunft außer Acht und sich von diesen Worten vereinnahmen ließ, es endete doch nur damit, dass man auf einem Bett lag, mit einem Zierkissen auf dem Gesicht, und so zu tun versuchte, als gäbe es einen gar nicht.
Inez nahm ihr eigenes Zierkissen und legte es neben den Jungen; sie wusste nicht, ob er groß genug war, um sich umzudrehen und vom Bett zu rollen, aber sie
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