Eis und Wasser, Wasser und Eis
Björns Zimmer zum ersten Mal seit mehreren Monaten geöffnet hatte und dass sie in ihrem Nachthemd in dem kalten Vormittagslicht mitten im Raum stand und sich umschaute. Es dauerte eine Weile, bis ihr aufging, dass Inez das Zimmer umgeräumt hatte, es zu einem Gedenkraum eher für den Gymnasiasten als für das Idol gemacht hatte. Die Schulbücher lagen in einem ordentlichen Stapel auf dem Schreibtisch, als könnte er jeden Moment kommen und sich dransetzen, um Hausaufgaben zu machen, aber es gab kein einziges Bild von den Typhoons an den Wänden und nicht eine einzige Platte in dem Schallplattenständer. Susanne drehte sich langsam herum und stellte fest, dass sie vor dem Schrank stand. Einen Moment lang starrte sie die Tür an, bis sie sich schließlich dazu entschloss, die Hand auszustrecken, den Schlüssel umzudrehen und zu öffnen.
Es schien, als stünde die Zeit hier drinnen still. Hier hingen Björns leicht abgetragene Hemden aus der Zeit, als er noch aufs Gymnasium ging, seine alte Cordjacke und sein schöner schwarzer Lambswoolpullover. Auf dem obersten Regalbrett lag ein weißes T-Shirt, sorgfältig gebügelt und so ordentlich zusammengelegt, dass es aussah wie für den Verkauf, neben seinen ebenso blendend weißen Unterhosen, auch die gefaltet und gebügelt. Und auf dem Boden stand seine Tourneereisetasche, der große schwarze Lederbeutel, der fast ein Jahr lang so etwas wie ein Zuhause für ihn bedeutet hatte. Die Silberzähne waren in einer Art Hohnlachen aufgesperrt, und sie ließ sich davor auf die Knie sinken, schob eine Hand in den Schlund und suchte im Inneren nach etwas, was auch immer, das Björn wieder wirklich werden lassen könnte.
Das Springmesser lag zur Hälfte unter die schwarze Bodenplatte aus Pappe eingeklemmt. Es war ganz schmal, und als sie zum ersten Mal das kühle Metall an den Fingerspitzen fühlte, glaubte sie, es handle sich um einen Stift. Es dauerte eine Weile, es hervorzuholen, und als sie es schließlich in der Hand hatte, war ihr zunächst nicht klar, was das eigentlich war. Ein kleines Metallgerät mit einer Kerbe fast über die ganze Länge und einem kleinen Knopf ganz unten. Kein Stift. Sie drückte mit dem Daumen auf den Knopf, doch nichts geschah, nur dass sie so herumfummelte, dass das Ding zu Boden fiel. Nicht, dass das schlimm gewesen wäre. Trotzdem hob sie es schnell auf, verbarg es in ihrer Hand und eilte zurück in ihr Zimmer, in ihr Bett. Erst als sie eine ganze Weile reglos dagelegen und darauf gewartet hatte, dass jemand, wer auch immer, die Tür öffnen und sie vorwurfsvoll anschauen würde, traute sie sich, die Augen zu öffnen und das Ding näher anzusehen.
Was war das eigentlich?
Ein kleines Stück silberglänzendes Metall. Eine Kerbe. Ein Knopf am Ende. Sie drückte mit dem Fingernagel darauf, dieses Mal fest und energisch, und in dem Moment fuhr die Klinge heraus, eine dünne, schmale Klinge mit rauer Oberfläche und einer ziemlich scharfen Spitze. Das hätte ein Springmesser sein können, wenn nicht die Schneide gefehlt hätte. Es war ganz einfach eine Nagelfeile, eine lange Nagelfeile, die aussah wie ein Springmesser. Nicht, dass Susanne jemals ein Springmesser gesehen hätte. Sie hatte nur davon gehört, und in ihrem Kopf gab es deshalb irgendwelche unklaren Vorstellungen und merkwürdigen Assoziationen. Mackie Messer beispielsweise. Italienische Mafiamänner. Und das Bild von jemandem, der einem anderen Menschen ein Springmesser in den Bauch presste und dann auf den Knopf drückte …
Aber was wollte Björn mit einer Nagelfeile, die aussah wie ein Springmesser?
Und woher hatte er sie? War das ein Geschenk von einem seiner Fans? Oder von Eva? War sie es, die sie aus dem Geschäft mitgebracht hatte? Björn würde so etwas nie kaufen, das stand fest. So viel wusste sie.
Susanne drückte die Klinge der Nagelfeile wieder hinein, umschloss das Springmesser mit der Hand, schob dann die Hand unter das Kopfkissen, während sie sich auf die Seite drehte und die Augen schloss. Und plötzlich war er da, plötzlich stand er vor ihr in ihrem Zimmer. Nein, er stand irgendwo auf einem Weg, einem Kiesweg, der durch einen Wald verlief, aber er sah sie, er sah Susanne genauso deutlich, wie sie ihn sah, und er lächelte und hob die Hand zum Gruß. Ich verzeihe dir, sagte diese Geste. Du bist meine kleine Schwester, und ich verzeihe dir …
Einen Moment lang bleibt Susanne reglos stehen und starrt ihr Spiegelbild an, dann verzieht sie das Gesicht und wendet sich
Weitere Kostenlose Bücher