Eis und Wasser, Wasser und Eis
selbst hören konnte, trotz des Winds. Berühmtheit. Was war es, das die Leute so nach Berühmtheit streben ließ? Es schien, als hätte dieser ganze Wahnsinnsherbst Björn verändert, hatte ihn glauben lassen, dass er wirklich der war, der er zu sein schien, als hätte alles, was in den Zeitungen gestanden hatte, ihn dazu gebracht, die Türen hinter sich zu schließen, als wäre er aufs Neue geboren, als hätte er nie …
Ein Gesicht flatterte in ihrer Erinnerung vorbei. Glänzend dunkles Haar. Ein weißes Lachen. Dralle Ärmchen, die sich ihr entgegenstreckten. Ein kleiner Björn. Einer, der gern auf ihrem Schoß saß, der seinen Kopf an ihre Brust lehnte, der sich in ihren Armen in den Schlaf wiegen ließ. Was machte er jetzt? Jetzt, in diesem Moment?
Diese Frage brachte sie dazu, den Mantelärmel ein wenig hochzuschieben und auf ihr Handgelenk zu gucken, aber bereits da wusste sie, dass das eine alberne Geste war, sinnlos, an der Grenze zu einer Lüge. Die Uhr war in dieser Dunkelheit doch gar nicht zu erkennen, das wusste sie, auch wenn die Ziffern phosphoreszieren sollten. Das hatte doch noch nie funktioniert. Und außerdem war es ganz gleich, wie spät es war. Selbst wenn sie bis auf die Mikrosekunde gewusst hätte, wie spät es war, hätte sie trotzdem nicht gewusst, was Björn gerade jetzt tat. Abgesehen davon, dass er in London war. Mit Elsie. Seiner Mutter. Seiner richtigen Mutter.
»Ich sollte nach Hause gehen«, sagte sie laut zu sich selbst und korrigierte sich im nächsten Moment. »Ich muss nach Hause gehen.«
Dennoch rührte sie sich nicht, blieb mit flatterndem Schal stehen, die Hände in die Ärmel geschoben, und starrte über das Wasser. Die Insel Ven lag wie ein dunkler Fleck zwischen Schweden und Dänemark, und sie betrachtete die vertraute Silhouette. Wie dunkel es da draußen jetzt sein musste. Nicht eine einzige Straßenlaterne, nur ein paar kleine, blinkende gelbe Lichter von den Häusern … Nein, das stimmte nicht. Eines der kleinen Lichter bewegte sich. Tat es das wirklich? Doch, ja. Jemand war mit einer Taschenlampe auf dem Weg hinunter zum Strand. Sie lächelte: Vielleicht war sie doch nicht ganz allein auf der Welt. Andere Menschen standen an anderen Stränden und versuchten, sich über das eine oder andere klar zu werden.
Der Gedanke brachte sie dazu, sich umzudrehen und über den Strand zu schauen. Es war Abend in Borstahusen. In einigen der kleinen länglichen Häuser brannte Licht. Es wohnten immer noch ein paar Fischer hier, sie hatte ihre zum Trocknen aufgehängten Netze auf dem Platz vor dem Pier gesehen, als sie gekommen war. Der Wind hob ihren Schal im Nacken an, sodass ihr die Eiseskälte unter den hochgeschlagenen Kragen kroch und sie weiter zum Strand trieb.
Wie lange würde sie für den Heimweg brauchen? Eine halbe Stunde. Mindestens. Oder Dreiviertel. Weil sie mit schleppendem Schritt ging. Und was sollte sie sagen, wenn sie nach Hause kam? Konnte sie sagen, dass sie draußen auf dem Pier in Borstahusen gestanden hatte, an einem Tag im Dezember, dass sie über eine halbe Stunde dort im Wind gestanden und versucht hatte, sich nicht länger selbst zu belügen? Besten Dank. Sie wusste genau, was passieren würde, wenn sie das täte, Birger würde anfangen und nicht mehr aufhören zu reden, und nach einer halben Stunde wäre ihre eigene Erinnerung ausgelöscht und durch etwas ersetzt worden, das er konstruiert hätte. Vermutlich würde es darum gehen, dass sie Bewegung brauchte, dass sie deshalb zu einem richtig langen Spaziergang aufgebrochen war … Ja. Das klang hölzern genug.
Und was sollte sie zum Essen kochen, nachdem sie auf dem Markt gar nichts eingekauft hatte? Eine Sekunde lang flimmerte ein Fantasiebild vorbei, sie sah Birger und Susanne am Küchentisch sitzen, Messer und Gabel erhoben, und schweigend die Tür anstarren. Vollkommen passiv. Die Münder wie Vogeljunge aufgesperrt. Darauf wartend, dass sie kommen und sie mit Essen vollstopfen würde, wie sie sie immer mit Essen vollgestopft hatte.
Scheiß auf die beiden, dachte sie in dem Moment, als sie den Fuß auf den Platz vor den Häuserfronten setzte.
Ja. So verhielt es sich tatsächlich. Sie hatte sie satt. Alle beide. Sie wollte abhauen.
Der Gedanke war bereits so vertraut und zugleich so absurd, dass sie darüber schmunzeln musste. Ach, tatsächlich. Und wohin, wenn man denn fragen durfte? Der Wind nahm erneut an Stärke zu, zerrte an ihrem Mantel und ließ das Schulterstück flattern, und sie
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