Eis und Wasser, Wasser und Eis
konnte mehr spüren als sehen, dass ganz in ihrer Nähe ein Fischernetz im Wind tanzte.
»Ich muss nach Hause gehen«, sagte sie noch einmal laut zu sich selbst, blieb trotzdem stehen und hielt sich an dem Pfosten direkt neben ihr fest. Der Wind packte das Fischernetz und ließ es über ihr Gesicht fahren. Sie hob die Hand und zog es weg, ohne darüber nachzudenken, was sie tat. Sie war gezwungen, nach Hause zu gehen. Aber sie wollte nicht. Sie wollte ganz und gar nicht.
Das war die Wahrheit. Das war alles, was sie über sich selbst und ihr Leben sagen konnte, in diesem Augenblick, ohne im Geringsten zu lügen.
Dennoch ging sie dann natürlich los. Sie vergewisserte sich sogar, dass die Handtasche richtig über der Schulter hing, zupfte an den Handschuhen und zog sie ein wenig fester, ergriff den Schal an beiden Enden, um zu überprüfen, ob er auch richtig geknotet war, aber das änderte nichts an der Tatsache. Sie wollte nicht nach Hause gehen. Das war eine Tatsache, und zwar eine Tatsache, die sie nicht länger ignorieren konnte.
Jetzt war sie auf der Kopfsteinpflasterstraße angekommen, und ein Stück entfernt brannte die erste Straßenlaterne, der sie auf dem Hinweg versucht hatte auszuweichen. Aber jetzt dachte sie gar nicht daran, sich länger zu verstecken, jetzt wollte sie geradewegs durch das schmutzig gelbe Licht hindurch und ins Dunkel auf der anderen Seite gehen. Denn jetzt war sie eine andere. Eine, die sich selbst eingestanden hatte, dass ein Teil des Lebens beendet war. Björn war jetzt fort. Für immer. Er war erwachsen und berühmt geworden und nach England gereist. Er würde Elsie treffen. Und auch wenn beide, Björn und Elsie, zurück nach Landskrona kämen, so würde es nie wieder wie früher werden. Er würde nie wieder auf ihrem Schoß sitzen. Er würde nie wieder an ihrer Brust einschlafen.
Also blieb noch der Rest des Lebens. Ihres Lebens. Und sie hatte nicht vor, ihn zu vergeuden. Sie dachte gar nicht daran, es sich zu gestatten, ihn zu vergeuden. Und es gab nur eine Sache, die sie wollte, abgesehen von der unmöglichen, die Uhr zurückzudrehen und auf ewig mit einem kleinen Björn zu leben.
Es gab auch Erwachsene, die in Lund studierten. Das wusste sie, und auch wenn Birger einmal höhnisch gelacht hatte, als er von dem ehemaligen Werftarbeiter erzählte, der plötzlich in der Schule auftauchte, mit einem Studienratsabschluss in Physik und Chemie und einem ganzen Sack mit Studienschulden auf dem Buckel – im Alter von 43! – , so war ihr das vollkommen gleich. Es war machbar. Andere hatten es auch gemacht. Was sprach also dagegen, dass sie es nicht auch schaffen könnte? Einen Moment lang flatterte wieder die alte Wunschvorstellung vorbei, von einer Dozentinnenstelle an der Universität und einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in Lund, aber sie widerstand der Versuchung, sich ihr hinzugeben. So würde es nicht kommen. Es gab tausend andere Möglichkeiten, aber nicht diese …
Sie würde gezwungen sein zu pendeln. Natürlich. Sie konnte ein paar Tage in der Woche zu den Vorlesungen und Seminaren in Lund pendeln und die übrige Zeit zu Hause sitzen und lernen. Vielleicht konnte sie in Elsies Zimmer oben auf dem Dachboden lernen, in dem Zimmer, das seit Jahren nicht benutzt wurde, das Inez nur ab und zu betrat, um Staub zu wischen und zu saugen. Sie könnte es sogar neu einrichten. Das alte Bett und den Toilettentisch rauswerfen und einen Schreibtisch kaufen, einen richtig schönen Schreibtisch und eine dänische Lampe mit gefälteltem Schirm …
Inez blieb stehen und schloss die Augen. Was bildete sie sich ein? Woher sollte sie das Geld für einen Schreibtisch nehmen? Oder für eine dänische Lampe? Alles Ersparte lag auf einem Bankkonto unter Birgers Namen, und allein der Gedanke, er könnte sich vorstellen, etwas abzuheben, damit sie sich einen Schreibtisch und eine Lampe kaufte, war undenkbar. Er hatte noch nie eine Öre von diesem Konto abgehoben, sondern hütete das Sparbuch ganz im Gegenteil eifersüchtig wie ein Drache seinen Schatz. Jeden Monat musste sie ihm einen Hunderter in die Hand geben, einen Hunderter, den er zu seinen eigenen Hundertern in seine Brieftasche steckte, bevor er sich den Mantel zuknöpfte und zur Bank ging, um es einzuzahlen. Und das Sonderbare war, dass der Hunderter, sobald er ihre eigene Brieftasche verlassen hatte, aufhörte, ihrer zu sein. Er wurde zu seinem. Allein der Gedanke, etwas von ihm zu erbitten, zu fordern oder zu begehren, erzeugte bei ihr
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