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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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ist, sich ihnen so auszuliefern. Auf Gedeih und Verderb. So unbeweglich, so schutzlos, eingefroren in einen Eiswürfel.“
    Ihre Blicke begegneten sich, und die Frau begann zu begreifen.
    „Und was“, sprach der Mann weiter, „wenn sie zu dem Schluß kommen, daß sie uns nicht mehr brauchen? Daß wir ihnen zu nichts mehr nütze sind? Und sie beschließen, uns aus unserem Eisschlaf überhaupt nicht mehr zu wecken? Sie zerren uns einfach aus unserem vereisten Magazin heraus, zusammen mit unseren Namen aus der Kartei, und werfen das alles auf einen Misthaufen, irgendwo am Stadtrand …“
    Sie sahen sich an. Sie erbleichten bei diesem Gedanken und fingen von innen zu zittern an, langsam, dann stärker.
     
    Anderntags standen sie auf dem Messegelände, am niedrigen eisernen Gitter, das die Galerie von den Geschäftsräumen trennte. Schweigend und aufmerksam sahen sie zu. Hinter ihrem Rücken hatten sich andere angesammelt, die Treppe hinauf bis ans Ende des Saales; auch sie vor Aufmerksamkeit kaum atmend.
    Und unten, in der kreisförmigen Mitte, kroch langsam und stumm eine dünne Menschenschlange voran. Nur das Schlurfen der Sohlen war zu hören – laute Fragen und die etwas leiseren Antworten, und das eine wie das andere hallte vom hohen Gewölbe der Ausstellungshalle wider wie militärische Kommandos. Auf der anderen Seite der Galerie, wo die Verwandten und nächsten Freunde standen, winkte jemand von Zeit zu Zeit verschämt und ängstlich mit dem Taschentuch und biß gleich darauf hinein, um nicht aufweinen zu müssen. Zu dreien näherten sie sich den Tischen in der Mitte des freien Raumes und legten ihre Papiere vor. Die übrigen warteten. Geduldig und diszipliniert. Es gab kein Gedränge. Der Anlaß war allzu ernst, und allen war es im Grunde gleichgültig, wann sie an die Reihe kämen und wie lange sie noch würden warten müssen. Im Vergleich zu dem, was folgen würde, war das hier alles unwichtig und bedeutungslos.
    Die nächsten drei kamen näher. Auf den Tischen standen Aufschriften und Fähnchen, wie auf wichtigen internationalen Konferenzen. Die drei überreichten ihre Papiere.
    „Ihr Name?“
    „Isaković Stojan.“
    „Beruf?“
    „Speiseeisverkäufer. Früher. Jetzt arbeitslos.“
    „Alter?“
    „Zweiundsechzig.“
    „Familienstand?“
    „Witwer. Alleinstehend. Die Kinder verheiratet.“
     
    Man hörte Schreibfedern knirschen. Die Schreiber arbeiteten mit gesenkten Köpfen. Der Kandidat war ein angegrauter, magerer Mann in einem dünnen Frühjahrsmantel. Es muß ihm kalt gewesen sein, denn seine Stimme zitterte etwas.
    „Kategorie?“ fragte der Oberprüfer und schaute auf.
    „Drei. Überzählig!“ sagte der zweite Prüfer.
    „Unbrauchbar für immer!“ schloß der dritte.
    Jemand seufzte laut auf, jemand im Publikum stieß einen unterdrückten Schrei aus. „Bitte sehr!“ sagte ein uniformierter Beamter, riß eine Nummer vom Block und hielt sie dem Mann hin. Ein anderer Beamter kam auf ihn zu und heftete einen weißen Streifen an den Ärmel seines Mantels. Der dritte überreichte ihm ein größeres Blatt Papier auf dem in Blockbuchstaben sein Name geschrieben stand. Der Überzählige, für immer Unbrauchbare aus der Kategorie 3/B bog nach rechts ab und ging, ohne sich umzusehen, durch eine weißgetünchte Tür und trug das Blatt Papier so aufmerksam auf der Hand wie ein Kellner ein mit kostbarem Geschirr voller Speisen beladenes Tablett.
    Automatisch und geräuschlos schloß die Tür sich hinter ihm. Die Organisation machte einen wirkungsvollen Eindruck und funktionierte anscheinend hervorragend. Das bemerkten auch einige Zuschauer, und sie konnten nicht anders, als das mit lauten Ausrufen zu bekräftigen. Der nächste trat an den Tisch, und hinten im Publikum die Neugierigen zischelten, um die anderen zum Schweigen zu bringen.
    Der Kandidat übergab seine Vorladung. Es war ein kleinerer, dünner, kurzsichtiger Mann. Irgendein Krampf beutelte sein Gesicht, und um den linken Mundwinkel zuckte es ihm in einem fort.
    „Sie heißen?“
    „Marko Stojanović.“
    „Beruf?“
    „Kultur und Gesellschaft …“
    „Nähere Bestimmung?“
    Er zählte seine Funktionen auf. Beim Rauschen, das den Zuschauerraum erfüllte, konnte man nicht alles genau vernehmen, doch war etwas zu hören wie: „Vorsitzender … Abteilungsleiter … Berater … Ausschußmitglied … Kommissionen … Journalist, Schriftsteller, Publizist …“ Und so weiter. Sein Gesicht zuckte, seine Brillengläser funkelten. Der

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