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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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nicht, und sein Gesicht war von der Aufschrift bedeckt. Ihnen zugewandt, waren die blanken Sohlen seiner schon abgetragenen Schuhe. Offensichtlich hatte er Glück oder Protektion gehabt. Es war längst Zeit, daß sie das mit ihm machten. Der nächste trug die Nummer:
     
    Lfd. Nr. 2597
    MITAR MITROVIC
    Professor
    Vereist: 4. IX. 1960
    Enteisung: Bei eventuell eintretendem Bedarf
     
    Den kannten sie gut. Sie wunderten sich: Noch vor ein paar Tagen hatten sie ihn auf der Straße an ihrem Haus vorbeigehn sehen. „Schau“, hatte Krekić damals gesagt, „dieser alte Dummkopf läuft immer noch auf der Welt ‘rum“, jetzt aber betrachtete er aufmerksam die Registrierungsnummer: „Mehr als zweitausend allein an einem Tag vereist …“
    Im Pavillon der Kategorie II/B, den sie danach aufsuchten, stießen sie auf etliche Journalisten und Leute vom Film: Drehbuchschreiber, Regisseure, Kameraleute und all die anderen Hilfskräfte, deren Namen im Vorspann aufgereiht sind und diesen länger machen als den ganzen Film. Danach folgten Redakteure von Rundfunk und Fernsehen, Blechbläser, Sänger, Chorknaben, Charakterdarsteller – alle bereits schön sortiert, aneinandergereiht nach Nummer, Datum, Beruf. Abteilungsleiter, höhere Referenten, praktische Ärzte, Maler, Fußballspieler, Zahnärzte, Ingenieure. Seine Kollegen, die Schriftsteller, konnte Herr Krekić auch im folgenden Pavillon nicht entdecken.
    Beide blieben betreten stehen und schauten sich an – sie wußten selbst nicht, ob befriedigt oder besorgt. Und sie wußten nicht, was das zu bedeuten hatte.
    „Aber wo sind sie denn dann“? fragte er, während sie den zwischen Mauern verlaufenden Pfad entlanggingen. „In welchem Pavillon?“ fügte er fast schreiend hinzu.
    „In diesem!“ sagte die Frau müde und zeigte mit der Hand auf das gewaltige weiße Tor des nächsten Pavillons. Darauf stand mit großen weißen Buchstaben:
     
    VEREIST FÜR IMMER
     
    Der frühere Generaldirektor Plećasch blieb an diesem Tage bei seinem Haustor stehn und sah sich jäh um. Vom Zaun bis zum Hause führten frische Spuren durch den tiefen Schnee. Das war seltsam. Wer hatte jetzt Grund und Anlaß, nach ihm zu suchen? Er bückte sich, betrachtete die Spur und tastete sie ab; mit Mühe widerstand er dem Wunsch, sie auch noch zu beschnüffeln. Die Spur war ohne Zweifel frisch; ein Mensch war vor höchstens einer halben Stunde hier entlanggegangen – zu einer Zeit, da er sich für gewöhnlich im Hause befand. Das heißt, der andere kannte seine Gewohnheiten und verfolgte seine Bewegungen.
    Die Stapfen führten schnurstracks zur Haustür – und dort, am Schloß, war irgendein Brief oder eine Nachricht befestigt; ein Stück Papier, das er zögernd und mit zitternden Händen entfaltete. Es war genau das, was er befürchtet hatte. Eine Aufforderung, sich schleunigst, ohne Aufschub – bei Androhung von Bestrafung und Zwangsvorführung – bei der Abteilung für Bevölkerungsregulierung zu melden.
    Er betrat sein Haus – sich vorsichtig anschleichend, als stehle er sich in eine fremdes. Und er war gegen Hinterhalte und unangenehme Überraschungen auf der Hut. Nichts. Nirgends. Nirgends ein Mensch. Alles wüst und leer. Übrigens war nichts mehr da, dem er hätte nachtrauern können: alles längst verfeuert – die Möbel, die Bilder, die Zimmertüren, das Parkett und schließlich auch die bloßen Fensterrahmen. Durch das verödete Haus bliesen die Winde, verwehten die Zimmer mit Schnee, und von der Decke herab und vom Fußboden hinauf waren, als einziges Mobiliar und einziger Zierrat, Stalagmiten und Stalagtiten gewachsen. Also, dachte er betrübt, auch von hier haben sie mich schließlich vertrieben.
    Er rührte nichts an; auch die paar Lumpen bei der Feuerstelle nicht, auf denen er zu schlafen pflegte. Vorsichtig zog er die Haustür hinter sich zu und heftete die Vorladung wieder an die gleiche Stelle, von der er sie abgenommen hatte. Niemand würde auch nur bemerken, daß er dagewesen war. Sie würden nicht erfahren, daß er die Vorladung erhalten hatte, und sie würden ihn nicht zur Verantwortung ziehen können. Sie würden ganz einfach nicht wissen, was mit ihm passiert war. Vielleicht war er für längere Zeit irgendwohin verreist, vielleicht aber auch ohne ihre Mithilfe irgendwo von selbst erfroren. Und so würde er einfach verschwinden, wunderschön verduften, als habe es ihn nie gegeben. Stumm und ohne eine Spur zu hinterlassen.
    Als war ihm jetzt plötzlich leicht zumut –

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